Bundesbankpräsident Joachim Nagel und der französische Notenbankgouverneur Villeroy de Galhau ©Frank Rumpenhorst / Matthieu Pattier

Gemeinsamer Appell zur Wiederbelebung des deutsch-französischen Dialogs Gemeinsamer Gastbeitrag von François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, und Joachim Nagel, Präsident der Deutschen Bundesbank, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und in Le Monde

Seit mehr als 60 Jahren pflegen Frankreich und Deutschland produktive Freundschaft. Indem unsere beiden Länder zusammengearbeitet und trotz häufiger anfänglicher Meinungsverschiedenheiten immer wieder Kompromisse gesucht haben, haben sie Europa gemeinsam vorangebracht. Zurzeit ist der deutsch-französische Dialog jedoch geschwächt – vor allem infolge der innenpolitischen Instabilität, die auf beiden Seiten des Rheins herrscht. Dabei bedarf es dieses Dialogs heute mehr denn je, da sich die Bedrohungen für Europa deutlich verstärken.

Neben den langfristigen Aufgaben, die sich aus dem Klimawandel, der Alterung der Bevölkerung und der Digitalisierung ergeben, sind wir mit geopolitischen Krisen und Spannungen konfrontiert. Auch der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen verschärft diese Spannungen womöglich weiter; wir sollten ihn daher als Weckruf begreifen. Vor diesem Hintergrund sollten Frankreich und Deutschland ihre Kräfte bündeln. Uns zu entzweien, wäre fatal für uns und fatal für Europa. Sprechen wir dagegen mit einer Stimme und führen wir den Austausch mit unseren europäischen Nachbarn fort, kann Europa ein wichtiger Spieler auf der internationalen Bühne sein.

Als Kollegen im EZB-Rat, als Freunde und entschiedene Verfechter des europäischen Gedankens sprechen wir uns daher heute gemeinsam für eine Wiederbelebung des konzertierten Handelns von Frankreich und Deutschland aus. Weil wir bezeugen können, wie sinnvoll sich diese Kooperation in den vergangenen 15 Jahren für die Krisenbewältigung erwiesen hat. Und weil wir überzeugt sind, dass Europa nach wie vor über die Mittel verfügt, um seine wirtschaftliche Entwicklung zu meistern und das Wachstum zu stärken– aber nur, wenn es den gemeinsamen Willen hierfür aufbringt. *

I. Die vergangenen 15 Jahre sollten uns stets in Erinnerung bleiben.

Ab 2009 entwickelte sich die globale Finanzkrise zur Staatsschuldenkrise im Euroraum. Einigen hoch verschuldeten Mitgliedstaaten drohte der Verlust des Kapitalmarktzugangs. Die Gefahr bestand, die Währungsunion könne auseinanderbrechen. Doch stattdessen ging Europa gestärkt aus der Krise hervor: Die Mitgliedstaaten spannten einen Rettungsschirm und schufen den Europäischen Stabilitätsmechanismus und die Bankenunion. Dabei vertraten unsere beiden Länder anfangs unterschiedliche Ansichten. Frankreich befürwortete mehr gemeinschaftliche Schulden, während Deutschland die Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten in den Vordergrund rückte. Doch in einem von Vertrauen geprägten Dialog gelang es unseren Regierungen, einen für beide Seiten tragfähigen Ansatz zu entwickeln. Auch während der Coronakrise im Jahr 2020 erzielten Deutschland und Frankreich einen erfolgreichen Kompromiss. Die Mitgliedstaaten beschlossen daraufhin ein außergewöhnliches, befristetes Mittel zum Krisenmanagement: den 750 Milliarden Euro schweren Fonds „Next Generation EU“, mit dem die Folgen der Coronakrise abgemildert werden konnten.

Im EZB-Rat pflegen die 26 Mitglieder um Christine Lagarde einen vertrauens- und respektvollen Umgang. In den Jahren 2021 und 2022 galt es, den Inflationsschub der Jahre 2021 und 2022 zu bewältigen. Seitdem ist die Teuerung von damals über 10 Prozent wieder auf heute 2,0 Prozent zurückgegangen. Wir beide waren uns zwar nicht immer bei allen Schritten vollkommen einig, doch gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen im EZB-Rat ist es uns immer gelungen, zu einer Entscheidung zu gelangen. Und der Sieg über die Inflation ist in greifbare Nähe gerückt. Wir sprechen uns voller Überzeugung für einen digitalen Euro aus – sowohl in einer Retail-Variante für die Bürgerinnen und Bürger als auch in einer Wholesale-Variante für Großbetragszahlungen an den Finanzmärkten. Ein digitaler Euro wäre ein wahrhaft europäisches Projekt, das vollständig auf der digitalen Infrastruktur in Europa basiert und folglich die europäische Autonomie im Zahlungsverkehr stärkt. Auch die im vergangenen Jahr abgeschlossene Überarbeitung der Fiskalregeln für Europa begrüßen wir. Wir benötigen im Euroraum stabile und nachhaltige öffentliche Finanzen, um die vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen. Wir erwarten von jedem Land, dass es diese gemeinsamen Regeln strikt einhält.

II. Wie geht es weiter?

Auf wirtschaftlicher Ebene stehen unsere beiden Länder und Europa nun an einem Scheideweg: Entweder Europa folgt weiter dem Pfad geringen Wachstums, geringer Produktivität und geringer Innovationskraft, dem Pfad der vergangenen drei Jahrzehnte – und insbesondere der letzten Jahre, den der Draghi-Bericht treffend als langsamen, aber qualvollen Niedergang beschreibt. Oder wir bündeln unsere Kräfte, um einen ambitionierten, auch disruptiven Pfad einzuschlagen. Dazu gilt es zwei Dinge zu erläutern:

Klar ist, dass die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten uns mit weiteren Herausforderungen konfrontieren wird: Wir sind uns einig, dass sich Protektionismus nachteilig auf Preisstabilität und Wachstum auswirkt, auch in den USA selbst. Und wir sind auch beide der Meinung, dass die langfristigen Zinssätze bei einer zu lockeren Finanzpolitik steigen könnten. Wir hoffen, dass es dazu im Rahmen der G7 und anderer Formate Gelegenheit zum Austausch geben wird. Unser Schicksal liegt aber auch in unseren eigenen Händen: Wir können zwar nichts daran ändern, was jenseits des Atlantiks geschieht, doch uns selbst können und müssen wir ändern.

Aus unserer Sicht geben die Berichte von Mario Draghi und Enrico Letta wichtige Hinweise für unseren Pfad. Hinsichtlich der Finanzierung sprechen wir uns beide dafür aus, den europäischen Haushalt für Aufgaben einzusetzen, die auf europäischer Ebene bewältigt werden sollten. Dazu sind aber derzeit keine neuen Schulden auf EU-Ebene erforderlich. Priorisieren sollten wir stattdessen die zahlreichen im Bericht enthaltenen Vorschläge für strukturellere Reformen, die keine Kosten nach sich ziehen.

Wie wir uns mit einem klareren Blick für das Dringliche weiterentwickeln müssen, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Vertiefung unseres Binnenmarktes, Schaffung einer Spar- und Investitionsunion und Abbau der Bürokratie, um Innovationen zu fördern. Oder um es physiologisch auszudrücken: Größe × Kraft × Geschwindigkeit.

Größe:

Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist unser Binnenmarkt dem US-Markt ebenbürtig. Doch ist er vor allem in den Bereichen Dienstleistungen und Telekommunikation fragmentiert, was sich nachteilig auf seine Anziehungskraft und Dynamik auswirkt. Dem IWF zufolge könnte ein Abbau der internen Hindernisse um 10 Prozent ein zusätzliches Wachstum von 7 Prozent generieren. Größe heißt auch, eine Wettbewerbspolitik mit echtem Fokus auf Europa umzusetzen.

Finanzielle Kraft:

Die Spar- und Investitionsunion fußt auf zwei Hauptkomponenten: einer vollendeten Bankenunion und einer neu ausgerichteten Kapitalmarktunion. Wir haben Investitionsbedarf, und wir haben die notwendigen Mittel (die überschüssigen Ersparnisse des privaten Sektors belaufen sich jährlich auf über 300 Milliarden Euro). Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten fehlt uns aber noch immer eine geeignete Vermittlung – insbesondere über Beteiligungs- und Wagniskapital.

Geschwindigkeit:

Ein höherer Innovationsgrad und weniger Bürokratie helfen uns bei der weiteren Entwicklung. Die Digitalisierung und die Energiewende sind nun einmal abhängig von Technologiesprüngen. Aus diesem Grund sollten wir uns von einer rein regulierenden Denkweise zu einem Handlungsrahmen und einer Kultur entwickeln, in der innovative Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Ideen verwirklichen können. Wir sollten es Robert Schuman gleichtun, der im Jahr 1950 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorschlug: Wir sollten Mut beweisen und eine Gemeinschaft für Künstliche Intelligenz und Technologie auf den Weg bringen.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns brutal vor Augen geführt, dass wirtschaftliche Integration allein kein Garant für Frieden ist. Ein stabiles Europa profitiert erheblich von einer engen Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland, die über die Wirtschaftspolitik hinausgeht. Es stimmt, dass unsere Länder in außen-, sicherheits- und energiepolitischen Fragen mitunter unterschiedliche Ansichten vertreten. Aber je bedrohlicher sich die Welt zeigt, desto wichtiger wird es, unsere Differenzen zu überbrücken und zu betonen, was uns eint. Wir begrüßen den Kompromiss, der im Oktober im Zuge der Reform des Strommarkts in der EU erzielt wurde. Und wir sprechen uns entschieden für einen stärker europäisch geprägten Ansatz in der Verteidigungspolitik aus. Wenn wir die Verteidigung als wahrhaft europäische Aufgabe begreifen, sollten mehr gemeinsame Beschaffungen von Rüstungsgütern und damit auch ein größerer gemeinsamer Verteidigungshaushalt folgen. Gewinnt unser politischer und wirtschaftlicher Dialog seine historische Qualität zurück, können wir weiter dazu beitragen, Europa in diesen schwierigen Zeiten zu stärken und voranzubringen. Diesem immens wichtigen Ziel fühlen wir uns beide von ganzem Herzen verpflichtet.