Wie der deutsche Erdgasmarkt auf Angebots- und Nachfrageschocks reagiert Research Brief | 71. Ausgabe – November 2024
Der Überfall Russlands auf die Ukraine löste 2022 eine Energiekrise aus, die die deutsche Wirtschaft vor große Herausforderungen stellte und eine breite Debatte über die wirtschaftlichen Konsequenzen des markanten Erdgaspreisanstiegs anstieß. In einer neuen Studie untersuchen wir die Ursachen und Folgen dieser Krise und zeigen auf, wie sich Angebotsschocks und eine sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Erdgaseinspeicherung auf Erdgaspreise und Industrieproduktion in Deutschland auswirkten.
Im Sommer 2021 begannen die Preise für Erdgas in der Europäischen Union stark zu steigen und beendeten damit eine zwei Jahrzehnte andauernde Phase niedriger und stabiler Preise. Auf dem Höhepunkt der Energiekrise 2022 war der Preis für einmonatige Erdgas-Futures am europäischen Markt zwölfmal so hoch wie im Durchschnitt des Jahres 2019. Dies stellte die deutsche Wirtschaft vor große Herausforderungen. Während bei Ölpreisschwankungen Ursachen und gesamtwirtschaftliche Folgen Ökonomen seit Jahrzehnten beschäftigen (zum Beispiel Kilian, 2009), sind diese für Gaspreisschwankungen weit weniger gut beleuchtet. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Erdgaspreise in der Vergangenheit weniger schwankungsanfällig waren. Deutschland erscheint jedoch aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise dem hohen Industrieanteil und der starken Abhängigkeit von russischem Erdgas, als besonders anfällig für Gaspreisschwankungen.
In einer neuen Studie (Güntner, Reif und Wolters, 2024) untersuchen wir, welche ökonomischen Triebkräfte hinter den Verwerfungen auf dem deutschen Erdgasmarkt stehen. Dabei differenzieren wir zwischen angebots- und nachfrageseitigen Faktoren. Wir unterscheiden diese unter anderem anhand von gut dokumentierter Evidenz zu historischen Ereignissen auf dem Erdgasmarkt. Dazu zählen beispielsweise die Unterbrechung russischer Gasimporte im Januar 2009 aufgrund eines Streits zwischen der Ukraine und Russland sowie der Stopp von Erdgasflüssen durch Nordstream 1 im Sommer 2022.
Verwerfungen auf dem Gasmarkt führen zu starken Preis- und geringen Mengeneffekten
Um die Triebkräfte und ihre wirtschaftlichen Folgen zu ermitteln, schätzen wir ein strukturelles vektorautoregressives Modell für den deutschen Erdgasmarkt. Unsere Schätzungen zeigen, dass Angebots- und Nachfrageschocks auf dem Gasmarkt zu signifikanten und andauernden Preiseffekten bei Erdgas führen. Hingegen reagiert die Industrieproduktion deutlich weniger stark auf diese Schocks (Abbildung 1). Insgesamt stellen wir fest, dass die deutsche Industrie recht anpassungsfähig in Bezug auf Störungen der Energieversorgung war. Insbesondere können Schwankungen in der Industrieproduktion nur in geringem Maße auf unerwartete Entwicklungen beim Gasangebot zurückgeführt werden.
2022 waren vor allem Gasangebotsschocks für die starken Preisschwankungen bei Erdgas in Deutschland verantwortlich (Abbildung 2). Ohne den Einfluss ungünstiger Angebotsschocks wäre der reale Gaspreis im Juli 2022 gut 30 Prozent niedriger gewesen. Im Oktober 2022, als die weggebrochenen Importe aus Russland durch unerwartet hohe Gasimporte aus anderen Ländern weitgehend ausgeglichen wurden, hätte der Gaspreis ohne den Einfluss dieser vorteilhaften Angebotsschocks um etwa 25 Prozent höher gelegen. Allerdings trugen auch Schwankungen der Gasnachfrage zur Preisentwicklung bei Erdgas bei. Dabei dürfte die unerwartet starke Nachfrage im Sommer 2022 Aufholeffekte im Nachgang der Pandemie sowie fiskalische Unterstützungsmaßnahmen (vgl. Hinterlang et al., 2024) widerspiegeln. Die preisdämpfenden Nachfrageschocks im darauffolgenden Herbst stehen im Zusammenhang mit den Gaseinsparmaßnahmen der deutschen Industrie. Zu sehen ist auch derjenige Beitrag zum Gaspreisanstieg, der auf die politisch induzierte, rasche Befüllung der deutschen Erdgasspeicher vor Beginn des Winters 2022/23 zurückgeht.
Unterbrechung der Gasversorgung 2022 hätte zu erheblichen Konsequenzen führen können
Unser Modell ermöglicht zudem die Berechnung hypothetischer Szenarien. Beispielsweise analysieren wir, wie sich Erdgaspreise, Speicherstände und Industrieproduktion entwickelt hätten, wenn die gesamten Erdgasimporte im April 2022 um 49 Prozent gesunken wären. Dieser Rückgang hätte entstehen können, wenn der damalige Anteil der russischen Gasimporte abrupt weggefallen wäre. Isoliert betrachtet hätte diese Minderung der Erdgasimporte laut Modell zu Energiepreisen geführt, die vorübergehend noch etwas höher gewesen wären, als sie es tatsächlich sowieso schon waren. Die Industrieproduktion wäre kurzfristig etwas stärker gefallen, während die Erdgasspeicher dauerhaft weniger stark gefüllt gewesen wären. Ohne den Einfluss wesentlicher Wirkungskanäle und Stellschrauben – beispielsweise die Substituierbarkeit von Erdgas – zu vergleichen, stehen unsere Ergebnisse im Einklang mit der theoretischen Arbeit von Bachmann et al. (2022). In einem weiteren Szenario betrachten wir die Effekte des ungewöhnlich milden Winters 2022/23. Dieses Temperaturszenario deutet darauf hin, dass der ungewöhnlich milde Winter insbesondere zu höheren Speicherständen sowie geringerem Preisdruck beitrug – in einem kalten Winter wären die Erdgasimportpreise um bis zu gut 19 Prozent höher gewesen und die Erdgasspeicher um etwa 15 Prozent weniger befüllt. Eine Kombination beider Szenarien hätte die deutsche Wirtschaft möglicherweise vor erhebliche Probleme gestellt. Insbesondere wäre eine Gasmangellage, das heißt eine vollständige Entleerung der Speicher, laut Modell in diesem Fall nicht auszuschließen gewesen.
Fazit
Unsere Studie trägt zu einem besseren Verständnis der makroökonomischen Effekte von Gaspreisschocks bei und liefert insofern wirtschaftspolitisch nützliche Erkenntnisse. Sie zeigt, dass die deutsche Wirtschaft zwar anfällig für Störungen in der Energieversorgung ist, aber auch eine bemerkenswerte Fähigkeit zur Anpassung an derartige externe Schocks aufweist.
Haftungsausschluss |
Die hier geäußerten Ansichten spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Deutschen Bundesbank oder des Eurosystems wider. |
Referenzen
- Bachmann, R., D. Baqaee, C. Bayer, M. Kuhn, A. Löschel, B. Moll, A. Peichl, K. Pittel, und M. Schularick (2024). What if? The macroeconomic and distributional effects for Germany of a stop of energy imports from Russia. Economica, Vol. 91(364), 1157‑1200.
- Güntner, J., M. Reif und M. W. Wolters (2024). Sudden Stop: Supply and Demand Shocks in the German Natural Gas Market, Journal of Applied Econometrics, im Erscheinen.
- Hinterlang, N., M. Jäger, N. Stähler und J. Strobel (2024). On curbing the rise in energy prices: An examination of different mitigation approaches. Deutsche Bundesbank. Diskussionspapier 09/2024.
- Inoue, A. und L. Kilian (2022). Joint Bayesian Inference about Impulse Responses in VAR Models. Journal of Econometrics 231(2),457‑476.
- Kilian, L. (2009). Not All Oil Price Shocks Are Alike: Disentangling Demand And Supply Shocks in the Crude Oil Market. American Economic Review 99(3),1053‑69.
- Montiel Olea, J. L. und M. Plagborg-Møller (2019). Simultaneous Confidence Bands: Theory, Implementation, and an Application to SVARs. Journal of Applied Econometrics 34(1),1‑17.
Die Autoren | ||
Dr. Magnus Reif Ökonom im Zentralbereich Volkswirtschaft der Deutschen Bundesbank | Prof. Dr. Jochen Güntner Johannes Kepler Universität Linz | Prof. Dr. Maik Wolters Christian-Albrechts-Universität zu Kiel |
Neuigkeiten aus dem Forschungszentrum
Veröffentlichungen
- „US trade policy and the US dollar“ von Makram Khalil (Deutsche Bundesbank) und Felix Strobel (Deutsche Bundesbank) wird im Journal of International Economics erscheinen.
- „The Empirical Performance of the Financial Accelerator since 2008” von Gregor Boehl (Universität Bonn) und Felix Strobel (Deutsche Bundesbank) wird im Journal of Economic Dynamics and Control erscheinen.
Veranstaltungen
- Spring Conference on Expectations of Households and Firms
24. – 25.04.2025 | Eltville am Rhein
349 KB, PDF
Weiterführende Informationen
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