Warum brauchen wir Europa? Annual Summit des Stern Stewart Institute
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Globale Herausforderungen erfordern globale Antworten
Wir leben in einer Zeit, die von einem tiefgreifenden Wandel geprägt ist. Dabei kommen viele unterschiedliche Kräfte zum Tragen. Beispiele hierfür sind etwa die Erderwärmung und der Übergang zu CO2-freier Energie, aber auch Fortschritte bei Digitalisierung und KI sowie geoökonomische Faktoren und der demografische Wandel.
Was haben all die genannten Entwicklungen gemeinsam? Sie betreffen die gesamte Menschheit. Es erscheint daher nicht hilfreich, sich auf nationale Lösungen zu konzentrieren. Die Europawahl hat jedoch gezeigt, dass viele Wählerinnen und Wähler Parteien unterstützt haben, die eine größere nationale Souveränität oder gar Nationalismus und weniger Europa fordern. Beispielhaft lässt sich dieser Trend am Brexit-Referendum vor acht Jahren oder an den jüngsten Landtagswahlen in Deutschland festmachen.
Wie kommt es dazu? Globale Veränderungen bringen oftmals globale Herausforderungen mit sich und führen manchmal auch zu globalen Krisen. Dabei sind die Zusammenhänge sehr komplex und müssen von den Verantwortlichen angemessen erklärt werden. Wenn wir diese Verantwortung nicht übernehmen, könnten sich einfache politische Botschaften zulasten komplexer Botschaften durchsetzen. Die Politik auf europäischer Ebene ist zweifellos komplex. Denken Sie nur an das Gesetzgebungsverfahren zur neuen Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit. In dieser Richtlinie werden Vorschriften für Unternehmen festgelegt, mit denen die von ihnen verursachten negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt gemindert werden sollen. Oder an den langsamen Fortschritt bei der Kapitalmarktunion – ein Thema, auf das ich später noch zurückkommen werde.
Da die aktuellen großen Herausforderungen globaler Natur sind, lassen sie sich jedoch nicht allein durch nationale Antworten lösen. Es bedarf einer globalen Antwort. Lassen Sie mich dies beispielhaft an der Pandemie verdeutlichen. Um die Pandemie zu überwinden, mussten in einem noch nie da gewesenen Maße Impfstoffe entwickelt, in Massen produziert und weltweit vertrieben werden. Oder denken Sie an die Klimakrise. Deutschland kann zwar bei der Dekarbonisierung seiner Wirtschaft mit gutem Beispiel vorangehen, aber es kann die Klimakrise nicht alleine lösen. Für die Länder in Europa bedeutet dies, dass wir gemeinsam Antworten auf die aktuellen Herausforderungen finden müssen. Das gilt auch für Deutschland – selbst wenn das Land zu den größten Volkswirtschaften der Welt gehört. Deutschland sollte sich als Teil eines größeren europäischen Teams sehen. Denn ein solches Team kann vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Risiken für mehr Stabilität sorgen, etwa mit Blick auf die zunehmenden weltweiten Handelsbeschränkungen. Europa hat gegenüber den beiden großen globalen Akteuren, den Vereinigten Staaten und China, nur eine Chance, wenn es seine europäischen Interessen einheitlich vertritt. Diese Einschätzung teilen fast drei Viertel der zu Jahresbeginn befragten Europäerinnen und Europäer.[1]
2 Europa – kein Ort der Schwäche, sondern eine Quelle der Stärke
Es stimmt, dass die Entscheidungsprozesse in offenen demokratischen Gesellschaften tendenziell komplex und schwerfällig sind. Je fragmentierter die politische Landschaft ist, desto schwieriger wird die Entscheidungsfindung. Dies lässt sich bereits auf nationaler Ebene beobachten, so wie derzeit in Frankreich und Deutschland. Noch komplexer ist die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene. Dort ist es schon eine Kunst an sich, einen Kompromiss zu finden. Demokratische Entscheidungsprozesse haben aber einen großen Vorteil. Sie berücksichtigen die unterschiedlichen Interessen der Menschen und ihre Präferenzen.
So ist eine deutliche Mehrheit der EU-Bürgerinnen und -Bürger damit zufrieden, wie Demokratie in der EU funktioniert. [2] Und der Anteil der Menschen, die ein positives Bild von Europa haben, ist fast doppelt so hoch wie der Anteil derer, die ein negatives Bild haben.[3] Darin könnte sich eine Beobachtung des spanischen Philosophen José Ortega y Gasset widerspiegeln, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts feststellte, dass vier Fünftel unseres geistigen Eigentums aus unserem gemeinsamen europäischen Erbe stammen.[4] Die Menschen scheinen ein gutes Verständnis dafür zu haben, was „europäisch“ bedeutet: Die gemeinsame Basis unserer liberalen, demokratischen Gesellschaften und die intellektuellen Errungenschaften, die wir erzielt haben.
Wenn wir uns diese Stärken Europas bewusstmachen, können wir sie nutzen, um weiterzukommen und den Wandel und die von mir eingangs erwähnten Entwicklungen zu bewältigen. Europa mangelt es nicht an Analysefähigkeiten, sondern an aktivem Handeln. Zum Beispiel: Ein vertiefter Binnenmarkt könnte dazu beitragen, die Chancen der Digitalisierung besser zu nutzen. Und ein einheitliches europäisches Vorgehen bei der Dekarbonisierung könnte als Vorbild dienen und die Gründung größerer Klimaclubs unterstützen. In einem Klimaclub profitieren alle davon, dass sie die Kosten für Maßnahmen zur Verringerung des CO2‑Ausstoßes gemeinsam tragen. Solange die Gewinne hinreichend hoch sind, besteht für die Mitglieder eines solchen freiwilligen Clubs der Anreiz, sich an die Regeln zu halten.[5]
3 Worauf es nun ankommt
Und was ist erforderlich, um weiterzukommen? Als Präsident der Bundesbank und Mitglied des EZB-Rats tue ich alles, was in meiner Macht steht. Das vorrangige Ziel ist die Wiederherstellung der Preisstabilität als eine entscheidende Voraussetzung für die Wirtschaftsentwicklung und das gesellschaftliche Wohlergehen. Und ich unterstütze auch Maßnahmen, die Europa helfen, zu handeln. In diesem Zusammenhang komme ich auf das Thema Kapitalmarktunion zurück. Die Kapitalmarktunion kann wesentlich dazu beitragen, den Unternehmen die notwendigen Mittel zur Bewältigung des Wandels zur Verfügung zu stellen. Hierzu zählen auch Finanzierungen mit dem Ziel, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und Innovationen voranzutreiben, um auch künftig weiter wachsen zu können. Europa erzielt relativ gute Ergebnisse im Bereich der Forschung.[6] Und Forschung ist eine entscheidende Grundlage für Innovationen. Ein Mangel an verfügbarem Kapital ist jedoch oftmals ein Wachstumshemmnis für junge innovative Unternehmen. Dies liegt vor allem daran, dass die Kapitalmärkte in Europa noch stark fragmentiert und verglichen mit etwa jenen in den Vereinigten Staaten eher unterentwickelt sind. Auch wenn die Marktstrukturen nicht vollständig vergleichbar sind, können hier Wagniskapitalinvestitionen als Beispiel dienen. In Relation zum BIP betragen diese Investitionen in den europäischen Ländern weniger als ein Zehntel der Investitionen, die in den USA in diesen Bereich fließen.[7] Durch eine europäische Kapitalmarktunion hätten die Unternehmen besseren Zugang zu Risikokapital in Europa, insbesondere junge Unternehmen, die sich in der Aufbau- und Skalierungsphase befinden. Und es gäbe bessere Ausstiegsoptionen. Die Kapitalmarktunion könnte die Chancen für Wirtschaftswachstum verbessern, indem mehr privates Kapital mobilisiert würde. Sie könnte auch dringend benötigte Investitionen in den digitalen und nachhaltigen Wandel Europas fördern.
Es ist eine echte Herausforderung, auf europäischer Ebene und in den 27 Mitgliedstaaten Fortschritte bei den Rechtsvorschriften zu erzielen, die zur Verwirklichung der Kapitalmarktunion erforderlich sind. Aber wenn wir uns einig sind, dass die Entwicklungen, die wir beobachten, globaler Natur sind, dann sollten wir nicht versuchen, sie auf nationaler Ebene zu bewältigen. Wir sollten multilaterale Lösungen anstreben. Hier in Europa bietet die Europäische Union großartige Chancen, gemeinsame Ansätze zu finden, die anschließend auch in vielen anderen Teilen der Welt übernommen werden könnten.
Ich bin zuversichtlich, dass die neue Europäische Kommission neue Impulse für die Zukunft setzen wird – nicht zuletzt im Hinblick auf die Kapitalmarktunion. Letzterer haben politische Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten vor Kurzem frischen Schwung verliehen. Wir können die europäische Idee wiederbeleben. Ein leistungsfähiges Forschungs- und Innovations-Ökosystem wird dieses Ziel unterstützen – mit stabilen Preisen, ausreichenden Finanzierungsmöglichkeiten und stetigem Wachstum. Arbeiten wir alle gemeinsam daran, Europa jetzt zu stärken.
Fußnoten:
- Vgl. Europäische Union (2024), Europeans' attitudes on trade and EU trade policy
- Vgl. Eurobarometer vom Frühjahr 2024, Frage SD18a, Standard Eurobarometer 101 – Spring 2024
- Vgl. Eurobarometer vom Frühjahr 2024, Frage QA12, Standard-Eurobarometer 101 – Spring 2024. Dort gaben 62 % an, dass sie mit Blick auf die EU optimistisch sind, verglichen mit 35 %, die pessimistisch waren.
- Vgl. Ortega y Gasset, J. (1931), Der Aufstand der Massen, S. 198.
- Vgl. American Economic Review (2015), 105(4): S. 1339‑1370, Climate Clubs: Overcoming Free-riding in International Climate Policy
- Vgl. Nature Index: 2023 Research Leaders; zu Deutschland vgl. auch: KfW Research: Wettbewerbsfähigkeit – vom kranken Mann Europas zum Superstar und zurück: Wo steht die deutsche Wirtschaft?, S. 15.
- Vgl. Demertzis, M., M. Domínguez-Jiménez und L. Guetta-Jeanrenaud (2021), Europe should not neglect its capital Markets union, Policy Contribution 13/2021, Bruegel, S. 6.