Resilienz und Erneuerung: Wege aus der Wachstumsschwäche Vortragsveranstaltung der Sparkasse Dortmund in Zusammenarbeit mit der ISM Dortmund

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einführung

Sehr verehrte Damen und Herren,

der amerikanische Ökonom Kenneth Galbraith stellt in seinem Buch American Capitalism die Hypothese auf, dass in der modernen Industrie nur die großen Unternehmen in der Lage sind, Innovationen voranzutreiben.[1] Das Buch erschien im Jahr 1952. Laut Galbraith stellt die schiere Größe solcher Unternehmen sicher, dass genügend Ressourcen für Forschung und Entwicklung bereitgestellt werden können. Die große Marktmacht sei auch eine Garantie dafür, dass die Innovationsgewinne nicht zu schnell durch mögliche Nachahmer geschmälert werden.

Eine Reihe von späteren Studien fand allerdings heraus, dass sich diese Thesen empirisch kaum belegen lassen. So sind kleinere Unternehmen in der Forschung und Entwicklung genauso aktiv wie große.[2] Mehr noch, es gibt Belege dafür, dass kleinere Firmen innovativer sind, insbesondere, wenn wir das Verhältnis von Innovationen zur Arbeitnehmeranzahl betrachten.[3] Diese Studien zeigen die immense Bedeutung des Mittelstands für die Wirtschaft, denn Innovationen gelten oft als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung.

In Deutschland scheint dieser Wachstumsmotor jedoch zu stottern. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland hat sich in den vergangenen Monaten nicht verbessert. Viel spricht dafür, dass dies nicht nur konjunkturell bedingt und insofern vorübergehend ist, sondern dass hier zusätzlich strukturelle Probleme am Werk sind, die das Wachstum länger und anhaltend bremsen. Diese strukturellen Faktoren möchte ich in meiner Rede ausführlicher beleuchten. Im Anschluss werde ich erörtern, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen konkret dazu beitragen können, Deutschland wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Zunächst möchte ich jedoch einen Überblick geben über die aktuelle Konjunkturlage, die Preisentwicklung und die Geldpolitik des Eurosystems.

2 Konjunktur- und Preisentwicklung

Egal ob groß oder klein, für Unternehmen sind die konjunkturelle Lage und Aussichten stets wichtige Rahmenbedingungen. Denn sie beeinflussen die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen, die wiederum Umsatz und Gewinn mitbestimmt. Zudem hilft eine Kenntnis der Lage im Konjunkturzyklus den Unternehmen, strategische Entscheidungen in Bezug auf Investitionen, Personalplanung und Marktpositionierung zu treffen. Dabei haben etwa Maschinenbauer naturgemäß einen anderen Blick auf die Konjunktur als Einzelhändler, Bauunternehmen haben eine andere Perspektive als Dienstleister. Für jeden Marktakteur spielen dabei jeweils andere Komponenten der Nachfrage eine wesentliche Rolle. Manche schauen mehr auf die regionale Konjunktur, andere hängen dagegen an der globalen wirtschaftlichen Entwicklung.

Mein Blick richtet sich zunächst auf die deutsche Konjunktur. Deutschland steckt in einer wirtschaftlichen Schwächephase fest, die nun schon zweieinhalb Jahre andauert. Im Sommer ist die deutsche Wirtschaftsleistung zwar leicht gestiegen. Doch dies hat den vorherigen Rückgang im Frühjahr nicht wettgemacht. Für das Schlussquartal dieses Jahres zeichnet sich in etwa eine Stagnation ab: Die Schwäche in der Industrie und beim Bau dürfte die Wirtschaftsleistung weiter dämpfen, und auch die Investitionsneigung dürfte schwach bleiben. Der private Konsum könnte zwar etwas expandieren, entwickelt sich angesichts der Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher jedoch schleppend. Nach 2023 könnte die deutsche Wirtschaft damit auch im Gesamtjahr 2024 leicht schrumpfen. In seinem jüngsten Jahresgutachten rechnet der Sachverständigenrat mit einem Minus von 0,1 Prozent. Für das kommende Jahr prognostiziert er eine magere Wachstumsrate von 0,4 Prozent. Damit bliebe Deutschland erneut hinter dem Euroraum-Durchschnitt zurück.

Die Unsicherheit ist insgesamt groß: Kommt es auf globaler Ebene nach den US-Wahlen tatsächlich zu massiven Zollanhebungen und noch mehr handelspolitischer Unsicherheit? Wenn ja, könnte das die Wirtschaftsleistung zusätzlich belasten. Die Bundesbank wird ihre neue Prognose im Dezember veröffentlichen. Dabei unterstellen unsere Fachleute in der Basislinie erst einmal keine neuen US-Zölle. Schließlich handelt es sich hierbei bisher nur um Ankündigungen. Aber es ist klar, dass wir ein solches Risikoszenario im Blick haben müssen.

Zollanhebungen hätten vermutlich auch Auswirkungen auf die Teuerung im Euroraum und in Deutschland – ein Thema, das viele Menschen stark beschäftigt. Dies zeigen zum Beispiel die jüngsten Ergebnisse einer regelmäßig durchgeführten Studie über die Ängste der Deutschen.[4] Die Sorge über höhere Lebenshaltungskosten steht zum dritten Mal in Folge an erster Stelle. Immerhin hat der Anteil der Befragten, die steigende Preise fürchten, von 65 Prozent im Vorjahr auf nunmehr 57 Prozent abgenommen. Das passt zum Befund, dass sich der Preisanstieg, also die Inflationsrate, zuletzt wieder in die Nähe des Vorkrisenniveaus bewegt hat.

Das Preisniveau ist allerdings nach der Inflationswelle deutlich höher als zuvor. Es dauert wohl noch einige Zeit, bis die Menschen sich an dieses höhere Niveau gewöhnt haben. Positiv bemerkbar macht sich, dass bei den Löhnen der Ausgleich der Kaufkraftverluste aufgrund des Inflationsschubs weit fortgeschritten ist. Das heißt dann: Mit mehr Geld im Portemonnaie können sich Lohnempfänger im Durchschnitt die höheren Preise wieder leisten. Nach der bitteren Erfahrung starker Preisanstiege ist es umso wichtiger, dass die Teuerungsrate nachhaltig auf 2 Prozent zurückkehrt, auf unseren Zielwert. Dies ist auch wichtig, damit die Inflationserwartungen einen verlässlichen Anker haben und die Inflationsängste in der Bevölkerung weiter abnehmen.

Nachdem die deutsche Teuerungsrate gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex im September erstmals seit langem unter 2 Prozent gesunken war, ist sie im Oktober wieder auf 2,4 Prozent gestiegen – und das nicht ganz unerwartet. Bei der gegenwärtigen Preisentwicklung spielen Basiseffekte aufgrund starker Schwankungen der Energiepreise im vergangenen Jahr eine erhebliche Rolle: 2023 hatten die Rohölpreise im September ihren Höhepunkt erreicht und waren danach wieder deutlich gesunken. Im laufenden Jahr wurden die Energiepreise daher bis September mit immer höheren Vorjahrespreisen verglichen. Das senkte die Inflationsraten im Vorjahresvergleich. In den kommenden Monaten trägt die Abwärtsbewegung der Energiepreise im Vorjahr dazu bei, dass mit einer vorübergehend weiter steigenden Gesamtinflationsrate zu rechnen ist.

Außerdem wirken zu Beginn des neuen Jahres Sondereffekte preiserhöhend. Dazu zählen die Preisanhebung beim Deutschlandticket und wohl auch kräftige Anhebungen der Tarife für private Krankenversicherungen. Obwohl es noch Preisdruck über die Löhne gibt, dürfte die Inflationsrate in Deutschland im Verlauf des Jahres 2025 allmählich wieder sinken. Das gilt auch für die Preisentwicklung im Euroraum, der für die geldpolitische Ausrichtung maßgeblich ist.

3 Geldpolitik

Verständlicherweise haben Unternehmen ein Interesse an günstigen Finanzierungsbedingungen: Je günstiger sich Investitionen finanzieren lassen, desto eher rentieren sie sich und desto leichter fällt die Entscheidung dafür. Besonders kleinere Unternehmen sind zinssensitiv, weil sie sich überwiegend über Fremdkapital – vor allem Bankkredite – finanzieren. Wie günstig die Finanzierungsbedingungen sind, darauf hat im Euroraum der EZB-Rat mit seiner Geldpolitik einen starken Einfluss.

Das vorrangige Ziel der europäischen Geldpolitik ist es freilich nicht, Unternehmen günstige Kredite zu verschaffen. Vielmehr haben wir den Auftrag, für Preisstabilität im gemeinsamen Währungsraum zu sorgen. Durch Straffung oder Lockerung der Finanzierungsbedingungen beeinflussen wir die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Und haben so eine Wirkung auf die gesamtwirtschaftliche Inflation.

Die außerordentlich hohen Inflationsraten, die wir seit Mitte 2021 sahen und die ihren Höhepunkt im Oktober 2022 hatten, zwangen uns, die Finanzierungsbedingungen kräftig zu straffen. Zehnmal hintereinander haben wir im EZB-Rat die Leitzinsen erhöht, um insgesamt 450 Basispunkte. Mittlerweile ist die Inflationsrate im Euroraum, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI, deutlich gesunken. Und das ist nicht nur, aber eben auch der restriktiven Geldpolitik des Eurosystems zu verdanken. Im Jahresdurchschnitt 2022 lag die Inflationsrate bei 8,4 Prozent, 2023 nur noch bei 5,4 Prozent. Im Durchschnitt des laufenden Jahres dürfte eine zwei vor dem Komma stehen.

Wir sind im EZB-Rat im Laufe dieses Jahres immer zuversichtlicher geworden, dass der Preisauftrieb weiter zurückgeht. Deshalb haben wir die Leitzinsen seit Juni dreimal um jeweils 25 Basispunkte gesenkt. Wir sind überzeugt, dass wir auch mit den niedrigeren Zinsen unser Inflationsziel von 2 Prozent bald und dauerhaft erreichen. Zinssenkungen wirken allerdings wie alle geldpolitischen Maßnahmen erst mit Verzögerung. Deshalb wäre es zu spät, den Kurs erst dann zu lockern, wenn die Zielinflationsrate erreicht ist.

Zugleich gilt es aber weiterhin vorsichtig zu sein und die Geldpolitik nur graduell und nicht zu schnell zu lockern. Denn es gibt nach wie vor Risiken. So ist nicht auszuschließen, dass das Lohnwachstum langsamer zurückgeht als erwartet. Sehr real ist zudem das Risiko, dass die neue US-Regierung handelspolitische Maßnahmen ergreift, die sich auch hierzulande in höherer Inflation niederschlagen. Zur Vorsicht mahnt aber auch die nach wie vor erhöhte Kerninflation, bei der die schwankungsanfälligen Energie- und Nahrungsmittelpreise herausgerechnet werden. Vor allem bei Dienstleistungen steigen die Preise weiterhin kräftig. Im Schnitt kosten sie im Euroraum derzeit 4 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Da sich der Preisauftrieb bei den Dienstleistungen mit abnehmendem Lohndruck allmählich verringern sollte, rückt der Zeitpunkt näher, von dem an wir mit einer nachhaltigen Rückkehr zur 2-Prozent-Marke rechnen können.

Bei einem Einlagesatz von 3,25 Prozent wirkt die Geldpolitik außerdem immer noch restriktiv. Sie leistet also weiterhin einen Beitrag dazu, dass die Inflation nachhaltig sinkt. Ob im Dezember ein weiterer Zinsschritt folgen wird, entscheiden wir auf Basis der dann vorliegenden Daten. Zudem legen die Fachleute der EZB und der nationalen Zentralbanken des Euroraums, also auch der Bundesbank, im Dezember eine neue Prognose für Inflation und Wachstum vor. Wichtig ist: Der EZB-Rat ist nicht auf einen bestimmten Zinspfad festgelegt. Wir entscheiden von Sitzung zu Sitzung, wie es weitergeht.

4 Strukturelle Herausforderungen

Wie es mit der Wirtschaft in Deutschland weitergeht, das ist wie gesagt nicht nur eine Frage der Konjunktur. Die gegenwärtige Wachstumsschwäche hat auch strukturelle Ursachen. Auf diese möchte ich nun – wie versprochen – eingehen. Vier Faktoren möchte ich dabei besonders hervorheben: Erstens dürften die Energiepreise in Deutschland für einen längeren Zeitraum höher liegen als vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zwar liegen die Gaspreise aktuell weit unterhalb der Extremwerte aus dem Sommer 2022. Dennoch übertreffen sie klar den Durchschnitt im Vorkrisenjahr 2019. Zweitens wird der angestrebte Wandel hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft zumindest über eine längere Übergangsphase hinweg mit beträchtlichen Kosten einhergehen. Drittens verschärft der demografische Wandel den Fachkräftemangel. Nehmen wir als Beispiel die Gesamtheit aller Personen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen können – das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial. Laut Projektionen der Bundesbank wird das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland ab 2026 spürbar sinken. Die Zuwanderung wird dieses Absinken voraussichtlich nicht kompensieren können. Viertens ist Deutschland als Land, das stark in der Weltwirtschaft verflochten ist, klarer Verlierer von zunehmendem Protektionismus und geoökonomischer Fragmentierung.

Diese vier strukturellen Herausforderungen stellen auch die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf die Probe. Und damit die deutsche Wirtschaft wieder wettbewerbsfähiger wird, sind Investitionen erforderlich – in Real- und Humankapital – und gute Standortbedingungen. Mit Investitionen halten sich die Unternehmen in Deutschland aber derzeit zurück. Seit etwa vier Jahren führt die Bundesbank eine Umfrage unter Unternehmen in Deutschland durch. Vor einem Jahr haben wir dabei nach den Gründen für die schwachen Investitionen gefragt. Die teilnehmenden Unternehmen verweisen – neben dem schwierigen makroökonomischen Umfeld – vor allem auf hohe Lohn- und Energiekosten sowie Fachkräftemangel. Danach nennen die Unternehmen unter anderem regulatorische Unsicherheiten, eine hohe Steuer- und Abgabenlast sowie ineffiziente öffentliche Verwaltung.[5] Ausgehend von diesen Antworten sollte eine Reihe von strukturpolitischen Maßnahmen stärker in die Diskussion gebracht werden, die die Standortbedingungen in Deutschland verbessern können. Ich möchte hierzu kurz auf die fünf Felder Bürokratie, Demografie, Energie, Handel und Finanzierung eingehen.

Beginnen wir mit einem Blick auf Bürokratielasten. Diese Belastungen können Unternehmen je nach Größe sehr ungleich treffen – beispielsweise hat nicht jedes Unternehmen die personellen Kapazitäten, um sich in alle Anforderungen der Verwaltung hineinzudenken. Hier sollte die Politik darauf achten, dass die Anforderungen an Unternehmen im Rahmen der Offenlegungs- und Berichtspflichten nicht ausufern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist das Lieferkettengesetz. Trotz berechtigter Ziele sollte darauf geachtet werden, dass die Umsetzung in der Praxis mit vertretbarem Aufwand möglich ist. Ein weiterer Ansatzpunkt ist in meinen Augen, zu überdenken, ob eine Vielzahl von Einzelregelungen und Spezialförderungen bei den Steuern Deutschland besser machen, oder ob der negative Effekt von mehr Bürokratie und einem gestaltungsanfälligen Steuerrecht überwiegt. Beispiele dafür wären die Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags- und Feiertagsarbeit oder die steuerliche Begünstigung von Dieselkraftstoff.

Nicht zuletzt geht es auch um die Bürokratie-Geschwindigkeit. Genehmigungsprozesse in Deutschland sind langsam. Viel zu langsam. So vergehen nicht selten mehrere Jahre, bis ein Windrad ans Stromnetz angeschlossen wird. Gerade mit Blick auf Geschwindigkeit und Effizienz sehe ich für die öffentliche Verwaltung eine große Chance in der Digitalisierung. Durch digitale Technologien lassen sich Verwaltungsprozesse vereinfachen und beschleunigen. Dabei wäre es wünschenswert, wenn nicht jedes der 16 Bundesländer seine eigene digitale Lösung entwickelt und der Bund die siebzehnte. Wir sollten zügig prüfen, wo mehr Harmonisierung oder gar Zentralisierung sinnvoll wäre, um beim Bürokratieabbau voranzukommen.

Kommen wir zum zweiten Punkt, zur Demografie. Hier sehe ich drei Stellschrauben für die Politik, um den Fachkräftemangel anzugehen. Zum einen sollte die Politik aus meiner Sicht Anreize für einen vorgezogenen Rentenbeginn abbauen und auch ab 2031 ein schrittweise höheres Rentenalter erwägen, indem dieses an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Ein Mann, der 1974 mit 65 Jahren in Rente ging, hatte im Durchschnitt noch fast zwölfeinhalb vor sich. Wer heute mit 66 Jahren in Rente geht, hat durchschnittlich noch fast 17 ½ Jahre vor sich. Außerdem kann er davon ausgehen, dass er die zusätzlichen Lebensjahre überwiegend bei besserer Gesundheit verbringen kann.[6] Wenn in Zukunft die Lebenserwartung im Trend weiter steigen sollte, dann erscheint es mir durchaus vertretbar, wenn ein Teil der dann hinzukommenden Lebensjahre in Arbeit verbracht wird.

Die zweite Stellschraube bezieht sich auf Personen, die aktuell wegen der Betreuung von Angehörigen nur eingeschränkt erwerbstätig sind. Mit besseren, erweiterten Betreuungsmöglichkeiten für Kinder und pflegebedürftige Angehörige könnte diesen Personen ermöglicht werden, mehr zu arbeiten, sofern sie dies wünschen. Die dritte Stellschraube ist für Deutschland ebenso wichtig: Deutschland muss noch attraktiver für ausländische Fachkräfte werden. Denn ohne diese ist der Rückgang des Arbeitskräftepotenzials nicht zu bewältigen. Nicht zuletzt könnten hier schlankere Verfahren bei Aufenthaltsgenehmigungen helfen.

Mit Blick auf das Thema Energiewende kommt es darauf an, den Unternehmen und Haushalten Klarheit zu geben, wie wir das Ziel der CO2-Neutralität bis zum Jahr 2045 erreichen. Und dafür braucht es eine höhere Planungssicherheit in der Energiepolitik. Investitionen in grüne Technologien gehen oft mit irreversiblen Kosten einher. Bei Unsicherheit über die zukünftige politische Entwicklung zögern Unternehmen daher verständlicherweise. Die Unsicherheit ließe sich mit einem konsistenten Rahmen für die zukünftige Energieversorgung reduzieren. Dieser müsste die Energieerzeugung auf Basis inländischer oder importierter Energieträger, Reservekraftwerke, Netze und Speicher umfassen und politisch möglichst breit unterstützen. Mit Blick auf die Dekarbonisierung ist aus Bundesbank-Sicht eine möglichst einheitliche und breite Bepreisung des CO2-Ausstoßes über alle Sektoren das beste Mittel, um Emissionen zu senken und Anreize für entsprechende Investitionen zu geben. Hinzu kommen flankierende Maßnahmen wie schnellere und vereinfachte Genehmigungsverfahren, die Förderung von Forschung und Entwicklung bei grünen Technologien und die Abschaffung brauner Subventionen.

Vorhersehbarkeit der Klimapolitik erhöhen, Bürokratielasten und Fachkräftemangel vermindern – mit diesen Maßnahmen ließe sich das Investitionsklima in Deutschland verbessern. Dabei sollten wir aber auch nicht außer Acht lassen, wie stark die deutsche Industrie und nicht zuletzt unsere Hidden Champions aus dem Mittelstand von der ausländischen Nachfrage abhängig sind. Mein viertes Themenfeld betrifft daher den Handel. Viele deutsche Industrieunternehmen sind in das weltweite Arbeitsteilungssystem tief integriert. Zunehmender Protektionismus und eine stärkere Fragmentierung der Weltmärkte würde deutschen Exporteuren den Zugang zu Drittmärkten erschweren und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Trotz geopolitischer Spannungen setze ich mich auch weiterhin für offene Märkte und regelbasierten, freien Handel ein – denn Protektionismus schadet am Ende allen.

Und nicht zuletzt benötigen die Investitionen auch Finanzierung – mein letztes Themenfeld. Wenn es um die Finanzierungsperspektiven geht, dreht sich nicht alles um die vom EZB-Rat festgelegten Leitzinsen, obwohl es sich ein solcher Eindruck oft aufdrängt. Auch die Struktur der Finanzmärkte spielt eine Rolle, denn neben dem klassischen Bankkredit bieten sich viele weitere Finanzierungsmöglichkeiten. Wenn wir bei der Europäischen Kapitalmarktunion vorankommen, dann gewährleisten wir damit für Unternehmen einen längerfristig besseren Zugang zu Kapital. Denn auf der Suche nach Finanzierung sehen sich Unternehmen oft innereuropäischen Grenzen gegenüber. Ein integrierter europäischer Kapitalmarkt könnte diesen Unternehmen mehr finanzielle Ressourcen für private Investitionen bieten, vor allem durch eine Belebung des Verbriefungsmarktes. Insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen können Verbriefungen eine Brücke zwischen kreditbasierter Bankenfinanzierung und Kapitalmärkten schlagen.[7]

Ich bin sicher: Mit diesem Maßnahmenbündel können wir unser Land wieder auf Erfolgskurs bringen.

5 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich zum Schluss kommen. Historisch gesehen hat Deutschland bereits in größeren Krisenphasen als heute Resilienz und die Fähigkeit zur Erneuerung gezeigt. Die Wachstumsschwäche nach der Jahrtausendwende und die Reaktion darauf im Kontext der Agenda 2010 sind ein gutes Beispiel dafür.

Zehn Jahre nach der Verkündung des Reformpakets im Bundestag veröffentlichte die britische Wochenzeitung The Economist einen Artikel unter dem aussagekräftigen Titel „Wunderreform“.[8] Darin finden sich die folgenden Worte: Zehn Jahre später, wie lautet das Urteil? Trotz Finanzkrisen steht Deutschland als wirtschaftliches Vorbild da, mit Rekordbeschäftigung und der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Einige Länder studieren die Agenda 2010, als wäre sie ein Handbuch.

Wenn alle die Ärmel hochkrempeln und die notwendigen Reformen mit Innovationsfreude anpacken – der Staat genauso wie die Unternehmen, große, mittlere und kleine, und auch die Beschäftigten, dann bin ich zuversichtlich, dass uns auch diesmal die Wachstumswende gelingen wird.

Fußnoten:

  1. Galbraith, J. K. (1952), American Capitalism, Boston: Houghton Mifflin Co.
  2. Symeonidis, G. (1996), Innovation, Firm Size and Market Structure: Schumpeterian Hypotheses and Some New Themes, OECD Economics Department Working Papers No. 161.
  3. Acs, Z. J. and D. B. Audretsch (1998), Innovation in Large and Small Firms: An Empirical Analysis, The American Economic Review, Vol. 78(4), pp. 678-690.
  4. Die größten Ängste der Deutschen: hohe Lebenshaltungskosten und Folgen der Migration (ruv.de)
  5. Deutsche Bundesbank, Inländische Investitionshemmnisse für deutsche Unternehmen, Monatsbericht Mai 2024, S. 88f.
  6. Vgl.: Robert Koch Institut (2015), Gesundheit in Deutschland, Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Gemeinsam getragen von RKI und Destatis, November 2015.
  7. Nagel, J., Keynote speech at the 10th anniversary of European DataWarehouse, Rede vom 14.11.2022.
  8. O. V., Wunderreform, The Economist, Ausgabe vom 16. März 2013.