Geldpolitik in Zeiten der Ungewissheit und struktureller Herausforderungen Rede auf der Veranstaltung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, hier und heute das Wort an ein solch erlesenes Fachpublikum von Finanzmarktexpertinnen und ‑experten richten zu können. Als erfahrene Marktbeobachter sind Sie natürlich vertraut mit den Schwankungen an den Finanzmärkten.

Im Frühherbst 2023 hatten die Finanzmärkte erwartet, dass das Eurosystem die Leitzinsen im Laufe des Jahres 2024 um etwa 60 Basispunkte senken werde. Nur drei Monate später gingen die Märkte indes aufgrund der Erfolge der Zentralbanken bei der Inflationseindämmung in Verbindung mit einer schwächeren Realwirtschaft davon aus, dass die Zentralbanken ihren Zinssenkungszyklus erheblich beschleunigen würden. Dabei galt eine Senkung um insgesamt 160 Basispunkte als wahrscheinlich.

In der ersten Jahreshälfte 2024 erwies sich die Teuerung jedoch als unerwartet hartnäckig. Darüber hinaus zeigten sich die Realwirtschaft und der Arbeitsmarkt erneut als widerstandsfähig. In der Folge verringerten sich die Markterwartungen hinsichtlich Zinssenkungen im Euroraum stetig auf etwa 65 Basispunkte bis Juni 2024.

Danach schwang das Pendel wieder zurück, denn die Inflationsrate fiel mehrmals unerwartet niedrig aus und die Konjunktur trübte sich ein. Nach den bereits im Juni, September und Oktober erfolgten drei Zinssenkungen um jeweils 25 Basispunkte gehen die Märkte aktuell davon aus, dass der Tagesgeldsatz im Jahresverlauf 2024 um rund 100 Basispunkte sinken wird.

Worauf sind diese beträchtlich schwankenden Markterwartungen zurückzuführen? Im Eurosystem lässt sich der Tagesgeldsatz in einem engen Rahmen durch Anpassung der Leitzinsen steuern. Dementsprechend spiegeln die Schwankungen der Tagesgeldsätze letztlich die Annahmen der Finanzmärkte dahingehend wider, wie wir aktuelle und zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen einschätzen und wie wir darauf reagieren. Aus Zentralbanksicht könnte man sagen, dass diese Fluktuationen unter anderem Interpretationen unserer Reaktionsfunktion darstellen.

Die in den letzten Monaten beobachteten starken Schwankungen deuten darauf hin, dass die Aussichten für die Realwirtschaft und die Preisentwicklung mit einer hohen Unsicherheit verbunden sind. In meiner Rede möchte ich Ihnen dazu einige Orientierungshilfen geben. Konkret gehe ich der Frage nach, wie das Eurosystem analytisch mit Unsicherheit umgeht und wie sich diese auf unsere geldpolitischen Beschlüsse auswirkt. Verdeutlichen werde ich dies anhand mehrerer Szenarios, die kürzlich von den Fachleuten des Eurosystems analysiert wurden.

Ich schließe mit einem kurzen Ausblick auf unsere in der nächsten Woche stattfindende geldpolitische Sitzung. Bevor ich ausführlicher auf die Szenarios eingehe, möchte ich die aktuellen Aussichten für die Realwirtschaft und die Preise im Euroraum und in Deutschland kurz skizzieren.

2 Aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen

In ihren gesamtwirtschaftlichen Projektionen vom September 2024 gingen die Fachleute der EZB davon aus, dass die Wirtschaft des Euroraums in den Jahren 2024, 2025 und 2026 um 0,8, 1,3 bzw. 1,5 Prozent wachsen werde. Darüber hinaus rechnete man für das Euro-Währungsgebiet bis zum Jahr 2026 mit einem allmählichen Rückgang der Inflationsrate auf durchschnittlich 1,9 Prozent. Maßgeblich für die erwartete rückläufige Teuerung seien vor allem der geringere Kostendruck, niedrigere Gewinnmargen und die verzögerte Wirkung der geldpolitischen Straffung.

Die seit September eingegangenen makroökonomischen Daten sind indes uneinheitlich. Im dritten Quartal 2024 erhöhte sich die Wirtschaftsleistung im Euroraum stärker als angenommen. Ungeachtet dessen bleibt die zugrunde liegende Wachstumsdynamik verhalten. Im September, Oktober und November fiel die Teuerung im Eurogebiet insgesamt schwächer als erwartet aus und liegt gegenwärtig bei 2,3 Prozent. Die Kerninflation, bei der die Preise für Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, verharrte im November bei 2,7 Prozent.

Zudem beschleunigte sich das Lohnwachstum im dritten Quartal auf 5,4 Prozent, was auf den außergewöhnlich starken Anstieg der Tariflöhne in Deutschland um 8,8 Prozent zurückzuführen ist. Letzterer war die Folge der hohen Tarifabschlüsse im deutschen Groß- und Einzelhandel, die unter anderem einen substanziellen einmaligen Inflationsausgleich vorsehen. Die jüngsten Tarifverhandlungen für die Metall- und Elektroindustrie zeigen jedoch einen moderateren Trend. Mit dem Auslaufen der befristeten Inflationsausgleichsprämien Ende 2024 wird die relative Bedeutung dauerhafter Zahlungen deutlich zunehmen.

Die deutsche Wirtschaft steht in jüngster Zeit aufgrund ihres schleppenden Wachstums im Fokus. Die Wirtschaftsleistung in Deutschland hat sich im dritten Quartal 2024 erhöht. Gegenüber dem Vorquartal stieg das reale Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt um 0,1 Prozent und übertraf damit frühere Erwartungen. Allerdings wurde der Rückgang des BIP im zweiten Quartal von 0,1 Prozent auf 0,3 Prozent nach oben revidiert, was darauf hindeutet, dass die Wirtschaftsleistung im Sommerhalbjahr insgesamt schwach blieb.

Aktuell bieten die wichtigen Nachfragekomponenten kaum Anlass zu der Annahme, dass sich die deutsche Wirtschaft auf kurze Sicht deutlich erholen wird.[1] Obwohl die privaten Konsumausgaben im dritten Quartal von den kräftigen Lohnsteigerungen profitierten, schwächt sich der Arbeitsmarkt ab, und die starke Verunsicherung der Verbraucherinnen und Verbraucher dürfte das Wachstum der privaten Konsumausgaben gedämpft haben.

Die Exporte sowie die Produktion in der Industrie und im Baugewerbe waren weiterhin rückläufig. Hohe Finanzierungskosten und die erhebliche wirtschaftspolitische Unsicherheit belasten nach wie vor die Investitionstätigkeit und beeinträchtigen die Nachfrage nach Bauleistungen und Investitionsgütern. Hinzu kommt die niedrige Kapazitätsauslastung, die sich in der Industrie nach wie vor investitionshemmend auswirkt.

Die Wettbewerbssituation der deutschen Industrie hat sich verschlechtert, und im Gegensatz zu früher gingen von den wachsenden Auslandsmärkten keine Wachstumsimpulse mehr aus. Die Industrie steht unter beträchtlichem Anpassungsdruck an die sich national und international wandelnden strukturellen Bedingungen. Hierzu zählen unter anderem höhere Energiekosten, die Umstellung auf CO2-freie Produktionsmethoden, aber auch die wachsende Konkurrenz aus Schwellenländern wie China und erhöhte internationale Spannungen.[2] Besonders stark wirkt sich der Strukturwandel auf den deutschen Automobilsektor aus.

Allgemein wird die deutsche Wirtschaft durch hohe bürokratische Hürden und den sich beschleunigenden demografischen Wandel negativ beeinflusst. Möglicherweise sind viele dieser strukturellen Herausforderungen in Deutschland besonders stark ausgeprägt, aber auch andere europäische Länder sind davon betroffen.

Da wir also vor denselben Herausforderungen stehen, sollten wir sie auch gemeinsam angehen: Nur mit einem einheitlichen europäischen Ansatz lassen sich viele der genannten Probleme lösen. Die jüngst veröffentlichten Berichte von Enrico Letta und Mario Draghi geben in diesem Zusammenhang wertvolle Handlungsempfehlungen.[3] Um ausführlich auf die beiden Berichte einzugehen, müsste ich wohl noch eine zweite Rede halten. Daher konzentriere ich mich an dieser Stelle auf den für Sie aus meiner Sicht relevantesten Aspekt.

Welche öffentlichen Güter sollten wir in Europa gemeinsam bereitstellen und wie sollten wir sie finanzieren? Weitgehende Übereinstimmung besteht darin, dass wir Effizienzreserven heben können – und dies auch tun sollten. Doch wie so oft steckt auch hier der Teufel im Detail.

Im Allgemeinen ist eine gemeinsame Bereitstellung dann ratsam, wenn eines der beiden folgenden Kriterien zutrifft: Entweder ist die gemeinsame Bereitstellung öffentlicher Güter kostengünstiger, oder es besteht auf nationaler Ebene die Gefahr einer Unterversorgung, da die Nutzen grenzüberschreitend anfallen.

Diese Kriterien gelten zweifellos für die Verteidigungspolitik, die bislang weitgehend eine nationale Angelegenheit ist. Als Europäer bin ich davon überzeugt, dass wir in diesem Bereich enger zusammenarbeiten sollten. Doch gut gemeint ist nicht immer auch gut gemacht. Eine verlässliche europäische Verteidigungspolitik zu schaffen ist kein Kinderspiel. So gilt es beispielsweise, zuverlässige und funktionierende Strukturen für die Entscheidungsfindung zu etablieren.

Ein weiterer Bereich, der sicher noch ein deutliches Verbesserungspotenzial aufweist, ist eine gemeinsame europäische Infrastruktur, und zwar sowohl im Energie- als auch im IT-Sektor. Hier sind einheitliche europäische Standards und die Koordinierung politischer Maßnahmen von entscheidender Bedeutung. So sollten die EU-Mitgliedstaaten Anforderungen und Regulierungen reduzieren, sofern sie einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Wege stehen.

Obschon eine gemeinsame Finanzierung keine Voraussetzung darstellt, könnte ein größerer Teil des EU-Haushalts für die Finanzierung europäischer öffentlicher Güter oder für den Aufbau einer europäischen Infrastruktur aufgewendet werden. Gegenwärtig entfallen zwei Drittel des Haushalts auf Agrarsubventionen und die stark auf Umverteilung ausgerichteten Kohäsionsausgaben.

Die Finanzierung gemeinsamer Ausgaben durch die gemeinsame Schuldenaufnahme wird aus meiner Sicht kurzfristig nicht angestrebt. Hier sprechen sowohl wirtschaftliche als auch rechtliche Gründe für ein vorsichtiges Vorgehen. Ich verweise dazu auf das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts.[4] Eine Schuldenaufnahme auf EU-Ebene würde daher eine weiter gehende Integration mit tiefgreifenden institutionellen Reformen erfordern.

Strengere Fiskalregeln reichen für sich genommen nicht aus, um die Verantwortung für gemeinsame Schulden zu tragen. Um demokratische Entscheidungsstrukturen zu gewährleisten, müssten Kompetenzen an die europäische Ebene abgegeben werden. Allerdings sehe ich gegenwärtig keine politischen Mehrheiten für derart weitreichende institutionelle Veränderungen.

Insgesamt scheint die Richtung, in die sich Europa bewegen muss, klar zu sein. Darüber, wie wir an unser Ziel gelangen können, besteht jedoch noch Ungewissheit. Und damit komme ich zurück zum Beginn meiner Rede, nämlich der beträchtlichen Unsicherheit, mit der wir aktuell in Bezug auf die zukünftige Preisentwicklung konfrontiert sind.

3 Unsicherheit in Bezug auf die Inflationsprojektionen des Eurosystems

Wie geht das Eurosystem mit der Unsicherheit um, und wie beeinflusst sie unsere Einschätzung der Inflationsaussichten? Vielen von Ihnen dürfte bekannt sein, dass die gesamtwirtschaftlichen Projektionen einen wesentlichen Beitrag zu unserem geldpolitischen Entscheidungsprozess leisten und auch ein wichtiges Kommunikationsinstrument des Eurosystems darstellen.[5]

In jedem Quartal prognostizieren die Fachleute des Eurosystems für den Euroraum die Inflationsrate und weitere makroökonomische Variablen für die kommenden zwei bis drei Jahre. Die im Juni und Dezember veröffentlichten Projektionen werden von Fachleuten der nationalen Zentralbanken (NZBen) in enger Abstimmung mit Fachleuten der EZB erstellt. Die im März und September veröffentlichten Projektionen werden dagegen von der EZB erarbeitet, wobei die NZBen die kurzfristigen Inflationsprojektionen beisteuern.

Die Projektionen beruhen auf bestimmten technischen – exogenen – Annahmen. Sie können daher als bedingte Projektionen angesehen werden. Konkret basieren die Projektionen der Fachleute auf den Erwartungen der Märkte hinsichtlich unseres geldpolitischen Kurses. Daher spiegeln sie nicht notwendigerweise den Zinspfad wider, den der EZB-Rat als am angemessensten erachtet.

Marktbeobachter konzentrieren sich häufig auf die sogenannte Basisprojektion. Diese entspricht dem Entwicklungspfad, der in den Augen der Fachleute des Eurosystems am wahrscheinlichsten ist. Die Basisprojektion ist jedoch nicht das einzige Szenario in Bezug auf die künftige Entwicklung. Das Eurosystem führt regelmäßig verschiedene Sensitivitäts- und Szenarioanalysen durch, die ebenfalls in unsere geldpolitischen Beschlüsse einfließen.

Das Eurosystem fasst die Ergebnisse dieser Analysen im Risikobewertungsteil unserer Erklärung zur Geldpolitik zusammen.[6] In unseren Quartalsberichten werden sie ausführlicher beschrieben. Die Sensitivitäts- und Szenarioanalysen sind aber nicht nur für die Feinabstimmung unserer geldpolitischen Beschlüsse von Nutzen. Sie tragen auch dazu bei, dass die Marktbeobachter unsere Reaktionsfunktion besser nachvollziehen können.

Im Folgenden möchte ich auf drei verschiedene Sensitivitäts- und Szenarioanalysen eingehen, die die Fachleute des Eurosystems in den letzten Quartalen durchgeführt haben: zum einen in Bezug auf den Einfluss divergierender Entwicklungen der Energiepreise, zum anderen zu den Auswirkungen alternativer Szenarios für das Verbrauchervertrauen und schließlich zum Einfluss divergierender Entwicklungen der Produktivität im Euroraum.

3.1 Divergierende Entwicklungen der Energiepreise

Die erste Quelle der Unsicherheit betrifft die Energiepreisentwicklung. Die Basisprojektion für die Inflation basiert auf Preispfaden, die zu einem bestimmten Stichtag in Terminkontrakten für Öl- und Gaspreise als exogene Variablen enthalten sind.[7] Da die zukünftige Entwicklung der Öl- und Gaspreise mit hoher Unsicherheit behaftet ist, können divergierende Entwicklungen in Bezug auf diese Rohstoffe die Konjunkturprognosen erheblich beeinflussen.

Die Fachleute des Eurosystems begegnen dieser Unsicherheit, indem sie divergierende Auf- und Abwärtsszenarios untersuchen.[8] Aus technischer Sicht leiten sich diese Szenarios aus dem 25. und 75. Perzentil der geschätzten optionsbasierten Verteilung der Wahrscheinlichkeit ab, die die Marktteilnehmer den zukünftigen Öl- und Gaspreisen beimessen.

In der letzten, im September 2024 veröffentlichten Sensitivitätsanalyse waren die divergierenden Ölpreisentwicklungen symmetrisch um das Basisszenario verteilt, was auf weitgehend ausgewogene Risiken hinweist. Die Verteilung der Gaspreise hingegen deutete auf Aufwärtsrisiken hin, die vermutlich ungünstigen geopolitischen Faktoren wie den eskalierenden Spannungen im Nahen Osten und dem Krieg in der Ukraine geschuldet waren. Für die einzelnen Szenarios berechneten die Fachleute des Eurosystems einen synthetischen Energiepreisindex, das heißt einen gewichteten Durchschnitt der Öl- und Gaspreisentwicklung, und bewerteten anhand von Modellen der EZB und des Eurosystems die makroökonomischen Auswirkungen.

Die Ergebnisse aus dem September deuteten darauf hin, dass die Inflation insgesamt stärkeren Aufwärtsrisiken unterliegt und die Risiken für das BIP-Wachstum geringer ausfallen.[9] Im Aufwärtsszenario könnte die Inflation bis Ende 2026 insgesamt 1,5 Prozentpunkte höher liegen als im Basisszenario. Im Abwärtsszenario liegt die prognostizierte Teuerung dagegen 1,1 Prozentpunkte darunter. Insgesamt wirken sich vorübergehende Energiepreisschwankungen erheblich auf die Inflation im Euroraum aus. Dies ist vor allem auf die hohe Flexibilität der Energiepreise und die starken Weitergabeeffekte zurückzuführen.

3.2 Alternative Szenarios für das Verbrauchervertrauen

Ich komme nun zur Szenarioanalyse in Bezug auf einen weiteren wichtigen konjunkturellen Faktor für die Realwirtschaft: Das Verbrauchervertrauen im Euroraum ist nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eingebrochen. Seither ist es trotz der jüngsten Erholung verhalten geblieben. Dies hatte eine Zurückhaltung bei den Konsumausgaben und den Wohnungsbauinvestitionen zur Folge. Die Ersparnisse bewegen sich dagegen weiterhin auf hohem Niveau.

In den im September 2024 veröffentlichten Projektionen haben die Fachleute des Eurosystems auf die potenziellen Risiken hingewiesen, die sich aus unerwarteten Veränderungen des Verbrauchervertrauens – der aus meiner Sicht zweiten Quelle der Unsicherheit – für die Basisprojektionen ergeben. Ich möchte nun auf zwei alternative Szenarios näher eingehen.[10]

Im ersten Szenario, das ein geringeres Verbrauchervertrauen unterstellt, wurde von einem Anstieg der Sparquote und einem Rückgang der Wohnungsbauinvestitionen ausgegangen – bedingt durch die erhöhte geopolitische Unsicherheit und die gestiegenen Finanzierungskosten. Im zweiten Szenario, bei dem ein höheres Vertrauen zugrunde gelegt wird, rechnete man mit einer rascheren Verbesserung des Verbrauchervertrauens und im Zuge dessen mit einer niedrigeren Sparquote sowie höheren Ausgaben und Wohnungsbauinvestitionen.

Die Szenarios mit geringerem und höherem Vertrauen wirken sich spürbar auf die Wachstumsraten der privaten Konsumausgaben und des realen BIP aus. Bis zum Jahr 2026 beträgt der kumulative Effekt auf die Konsumausgaben 1,4 Prozentpunkte und auf das reale BIP 0,9 Prozentpunkte, mit negativem Vorzeichen für das Szenario mit geringerem Vertrauen. Mit plus bzw. minus 0,1 Prozentpunkten ist der kumulierte Effekt auf die Inflation im Euroraum dagegen eher vernachlässigbar. Alles in allem wirken sich Veränderungen des Verbrauchervertrauens zwar anscheinend spürbar auf die Realwirtschaft aus, beeinflussen unsere Basisprojektion für die Inflationsrate – zumindest bis September 2024 – jedoch kaum.

3.3 Divergierende Entwicklungen der Produktivität im Euroraum

Abschließend möchte ich auf einen entscheidenden Faktor für das mittel- bis langfristige Wachstum zu sprechen kommen: Seit geraumer Zeit wird im Euroraum ein schwaches Produktivitätswachstum verzeichnet, und zwar sowohl in der historischen Betrachtung als auch im Vergleich mit anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten. Diese Entwicklung ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Unternehmen im Euro-Währungsgebiet in einer Phase relativ schwachen Produktionswachstums Arbeitsplätze erhalten oder sogar neu geschaffen haben. Darüber hinaus deutet vieles darauf hin, dass sich der zugrunde liegende Trend eines anziehenden Produktivitätswachstums deutlich abgeschwächt hat.

Die aktuellen Basisprojektionen gehen von einem allmählichen Anstieg der Produktivität im Zuge eines steigenden BIP-Wachstums aus. Trotz dieser Verbesserung dürfte das Produktivitätswachstum geringer ausfallen als in den vergangenen beiden Jahrzehnten. Aber auch eine raschere Erholung der Produktivität ist nicht auszuschließen. Diese würde eine umfassende Nutzung neuer Technologien wie der künstlichen Intelligenz erfordern.

Um die Auswirkungen divergierender Produktivitätspfade – der aus meiner Sicht dritten Quelle der Unsicherheit – abzuschätzen, haben Fachleute des Eurosystems im Juni zwei Szenarios betrachtet:[11] Im optimistischen Szenario gingen sie davon aus, dass der Effekt der konjunkturellen Faktoren, die in der Vergangenheit die Beschäftigung stützten, rascher abklingen würde. Hierzu zählen eine rückläufige Arbeitskräftehortung und geringere Anreize für Neueinstellungen. Dies würde zu einem schwächeren Beschäftigungswachstum über den Projektionszeitraum hinweg führen, was im Vergleich zum Basisszenario eine höhere Arbeitsproduktivität zur Folge hätte.

Im pessimistischen Szenario wurde von strukturellen Faktoren ausgegangen, die sich nachteilig auf das Kapital und die totale Faktorproduktivität (TFP) auswirken. So könnten Hysterese-Effekte infolge der in der Vergangenheit schwachen Nachfrage die Anreize für Investitionen in den Kapitalstock verringern. Auch hohe Energiepreise, geopolitische Spannungen und Lieferkettenstörungen könnten sich negativ auf die Entwicklung der TFP auswirken.

Im optimistischen Szenario fällt der kumulative Einfluss auf die Inflationsrate bis Ende 2026 mit einer vernachlässigbaren Minderung um 0,02 Prozentpunkte sehr klein aus. Im pessimistischen Szenario steigt die Inflation kumuliert um 0,25 bis 0,3 Prozentpunkte. In beiden Szenarios waren die Auswirkungen auf das reale BIP-Wachstum negativ und lagen bei 0,2 bis 0,9 Prozentpunkten. Insgesamt reagiert die Basisprojektion für die Inflationsrate nur wenig sensibel auf die genannten alternativen Produktivitätsszenarios.

3.4 Gesamteinschätzung

Was sind nun die wichtigsten Schlüsse, die Sie und die Marktteilnehmer im Allgemeinen aus diesen Analysen ziehen können? Ich möchte drei Schlussfolgerungen erwähnen:

Erstens üben die Energiepreise natürlich einen kräftigen unmittelbaren Einfluss auf die Inflationsaussichten im Euroraum aus. Aus diesem Grund werden diese Preise in den Dezember-Projektionen sowohl im Rahmen des Basisszenarios als auch alternativer Szenarios genau untersucht.

Zweitens wirken sich einige Faktoren wie Veränderungen des Verbrauchervertrauens oder des Produktivitätswachstums zwar deutlich auf das realwirtschaftliche Wachstum aus, haben jedoch nicht zwangsläufig nennenswerte Effekte auf die Inflationsaussichten.

Drittens gilt es zu berücksichtigen, dass alle Szenarioanalysen entscheidend von den zum Zeitpunkt der Analyseerstellung vorherrschenden spezifischen Risiken beeinflusst werden. Mit Blick auf die Zukunft ist zu bedenken, dass sich potenziell neu ergebende Risiken in hohem Maße auf die Inflation im Euro-Währungsgebiet auswirken können. Große Sorgen bestehen gegenwärtig im Zusammenhang mit den möglichen Effekten der von der künftigen US-Regierung geplanten Zölle. Ich denke, wir alle kennen die regelmäßig in den sozialen Medien veröffentlichten neuen Zahlen und Länder.

Daher täten die Finanzmarktteilnehmer in diesen unsicheren Zeiten gut daran, nicht nur unsere Basisprojektionen zu berücksichtigen, sondern auch das umfassende Szenario und die Sensitivitätsanalysen des Eurosystems in ihre Überlegungen einzubeziehen.

4 Geldpolitischer Ausblick

Was bedeutet all das nun für den Beschluss, den der EZB-Rat am Donnerstag nächster Woche treffen wird?

Anfang dieser Woche haben die Märkte eine Zinssenkung um rund 32 Basispunkte eingepreist. Da der Disinflationsprozess im Großen und Ganzen wie derzeit projiziert verläuft, spricht in meinen Augen zum jetzigen Zeitpunkt nichts gegen eine weitere Reduzierung unserer Leitzinsen.

Ein endgültiges Votum behalte ich mir jedoch vor, bis die neuen gesamtwirtschaftlichen Projektionen für Dezember vorliegen und ich mir eine Einschätzung über die Risiken im Zusammenhang mit dem Basisszenario gebildet habe. Auf jeden Fall warne ich davor, den Grad der geldpolitischen Straffung übereilt zu verringern. Die Zinssätze sollten sich langsam und in moderatem Tempo dem neutralen Bereich annähern.

Mir ist durchaus bewusst, dass sich der neutrale Bereich nur schwer definieren lässt, was die Unsicherheit noch steigert. Aber gerade diese Unsicherheit spricht meiner Meinung nach für einen vorsichtigen und schrittweisen Ansatz. Aktuell besteht in meinen Augen kein erhebliches Risiko, dass das Inflationsziel unterschritten wird, was auf kurze Sicht einen expansiven geldpolitischen Kurs des Eurosystems erforderlich machen würde.

Damit möchte ich meine Rede beschließen und freue mich auf unseren Austausch. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Fußnoten:

  1. Siehe Deutsche Bundesbank, Konjunktur in Deutschland, Monatsbericht, November 2024.
  2. Zum letzten Punkt siehe Nagel, Geoökonomische Fragmentierung: Wie können wir mit Inflationsdruck und Inflationsvolatilität umgehen und die Widerstandsfähigkeit steigern? Rede an der Universität Tokio, 18. November 2024.
  3. Siehe Letta, E. (2024), Much more than a market – speed, security, solidarity. Empowering the Single Market to deliver a sustainable future and prosperity for all EU Citizens; Draghi, M. (2024), The future of European competitiveness – A competitiveness strategy for Europe.
  4. Siehe Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2023 – 2 BvR 900/22 –, Rn. 1‑38, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2023/10/rs20231031_2bvr090022.html, insbesondere Rn. 8.
  5. Siehe Nagel, J., Dot Plots für das Eurosystem? Rede an der Harvard University, 22. Oktober 2024, Cambridge.
  6. Siehe beispielsweise https://www.ecb.europa.eu/press/press_conference/monetary-policy-statement/2024/html/ecb.is241017~59ad385bab.de.html
  7. Bei den Ölpreisen handelt es sich um die Kassa- und Terminpreise für Rohöl der Sorte Brent, bei den Gaspreisen um die Kassa- und Terminpreise für Dutch TTF Gas.
  8. Weitere Einzelheiten hierzu in: EZB, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems, September 2024, Abschnitt 6.
  9. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen sind als Durchschnittswerte einer Reihe von makroökonomischen Modellen der EZB und des Eurosystems angegeben.
  10. Weitere Einzelheiten hierzu in: EZB, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems, September 2024, Kasten 2. Der Kürze halber wird das dritte Szenario (vorübergehend geringeres Vertrauen) nicht betrachtet.
  11. Weitere Einzelheiten hierzu in: EZB, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems, Juni 2024, Kasten 3. Für die Beurteilung der Szenarios wurden zwei unterschiedliche Modelle herangezogen. Siehe hierzu die Anmerkung in Tabelle B in EZB, a. a. O..