Dot Plots für das Eurosystem? Rede an der Harvard University, Cambridge
Es gilt das gesprochene Wort.
1 Einleitung
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, wieder an der Harvard University zu sein, langjährige Weggefährten wie Hans-Helmut Kotz zu treffen und mich mit herausragenden Wissenschaftlern wie Benjamin Friedman auszutauschen. Als ich vor zwei Jahren hier zu Ihnen gesprochen habe, waren wir mit einem beispiellosen weltweiten Inflationsschub konfrontiert.[1] Glücklicherweise liegt nun das Schlimmste hinter uns, und im Euroraum bewegt sich die Teuerung wieder in Richtung der Zielgröße des Eurosystems. Zwar sind wir mit unserem „Inflationsschiff“ noch nicht im sicheren Zwei-Prozent-Hafen angekommen, doch ist er bereits in Sicht. Deshalb kann ich mich heute einer anderen Fragestellung widmen.
Bevor ich aber dazu komme, möchte ich auf eine Analogie verweisen und damit den Grundstein für meinen Redebeitrag legen. In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es in der Volkswirtschaftslehre eine Spaltung in zwei scheinbar unvereinbare Denkschulen: die neukeynesianische und die neoklassische Theorie. Ihre Verfechter pflegten einen nicht gerade höflichen Umgang miteinander und stuften Annahmen schon einmal als geradezu „töricht restriktiv“ ein oder verglichen das Auftreten eines Widersachers mit dem von Napoleon Bonaparte.[2] Im Laufe der Zeit flossen die Konzepte beider Lager letztlich jedoch in einen Konsens ein: die neue neoklassische Synthese, die der modernen Makroökonomik überhaupt erst den Weg bereitete.[3] Gregory Mankiw hat diese Entwicklung in seinem Essay „The Macroeconomist as Scientist and Engineer“ treffend beschrieben.[4]
Aus dieser Analogie lässt sich folgern, dass komplexe Fragestellungen nur selten einer Schwarz-Weiß-Logik gehorchen. Vor diesem Hintergrund möchte ich der Frage nachgehen, ob sich die Durchführung der Geldpolitik im Euroraum verbessern lässt, indem in Bezug auf die künftige Entwicklung der Geldpolitik detailliertere und differenziertere Informationen bereitgestellt werden. Genauer gesagt steht für mich heute die folgende Fragestellung im Fokus: Sollte das Eurosystem Dot Plots einführen?
Zu diesem Zweck werde ich zunächst auf aktuelle Erfahrungen mit Dot Plots und anderen Formen der Forward Guidance in den Vereinigten Staaten und im Euroraum eingehen. Danach komme ich zu einer Einschätzung, welche Vor- und Nachteile mit der Integration von Dot Plots in die Kommunikationsstrategie des Eurosystems verbunden sein können. In dieser Analyse konzentriere ich mich auf die Implikationen für die Unabhängigkeit der geldpolitischen Entscheidungsträger, die Effektivität der Geldpolitik und den Umgang mit Unsicherheiten.
2 Dot Plots und andere Formen der Forward Guidance
Dazu möchte ich zunächst einige grundlegende Punkte ansprechen. Die Zentralbanken der Industrieländer verfügen in ihrer Mehrzahl über ein klares Mandat, die Preise stabil zu halten. Dieses nehmen sie vor allem wahr, indem sie den Leitzins festlegen und ihre Beschlüsse kommunizieren, um so die Erwartungen der Wirtschaftsakteure – darunter Marktteilnehmer, private Haushalte und Unternehmen – zu steuern. Geben Zentralbanken explizite Hinweise bezüglich des zukünftigen Leitzinspfads, sprechen wir von Forward Guidance.
Diese lässt sich in zwei Idealtypen unterteilen: „odysseisch“ und „delphisch“.[5] Ersterer beinhaltet eine feste Zusage der Zentralbank in Bezug auf ihr zukünftiges Handeln, beispielsweise das Versprechen, die Leitzinsen über einen gewissen Zeitraum auf einem bestimmten Niveau festzuschreiben. Wie Odysseus, der sich der Überlieferung zufolge an den Mast seines Schiffes binden ließ, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen, verpflichten sich die Zentralbanken, Kurs zu halten – was immer die Zukunft bringen mag.
Dagegen ist die delphische Forward Guidance an Bedingungen geknüpft. Dabei werden Informationen zu den Konjunkturaussichten und den geldpolitischen Handlungsabsichten der Zentralbank ohne feste Zusagen kommuniziert. Die Bezeichnung spielt auf das berühmte Orakel von Delphi an, das Prophezeiungen und Vorhersagen machte, die so uneindeutig waren und so viel Interpretationsspielraum ließen, dass sie sich im Rückblick scheinbar stets erfüllten. Beispielhaft für eine solche Forward Guidance seien hier die von der Norges Bank und der Sveriges riksbank veröffentlichten Leitzinsprognosen genannt.
Eine weniger offenkundige Form der geldpolitischen Kommunikation bietet die Reaktionsfunktion der Notenbank. Diese zeigt an, wie die Zentralbank ihren Leitzins als Reaktion auf wichtige makroökonomische Variablen wie die Inflationsrate und das Wirtschaftswachstum anpasst. Ist die Reaktionsfunktion für die Wirtschaftsakteure klar nachvollziehbar, kann die Kommunikation über die voraussichtliche Entwicklung dieser makroökonomischen Variablen auch die Erwartungen der Wirtschaftsakteure für den zukünftigen Leitzinspfad steuern.
2.1 Das Dot Plot der Federal Reserve
Um die Frage, ob das Eurosystem Dot Plots einführen sollte, näher zu beleuchten, möchte ich kurz rekapitulieren, wie die Dot Plots der US-Notenbank Fed zustande kommen und wie sie von Marktbeobachtern betrachtet werden. Vor zwölf Jahren veröffentlichte die Fed erstmals die Projektionen der Mitglieder des Offenmarktausschusses (Federal Open Market Committee – FOMC) für den Leitzins, die Federal Funds Rate. Damit sollte die Transparenz erhöht und die Kommunikation mit den Finanzmärkten und der Öffentlichkeit intensiviert werden. Auf der anderen Seite des Atlantiks hat das Eurosystem vom Tag seiner Gründung an öffentliche Pressekonferenzen abgehalten und Erklärungen zur Geldpolitik, Sitzungsprotokolle und Ergebnisse der vierteljährlichen gesamtwirtschaftlichen Projektionen veröffentlicht.
Wie Sie sicher wissen, geben die Mitglieder vor der Sitzung des Offenmarktausschusses ihre individuelle Einschätzung des angemessenen Leitzinssatzes für das Ende des laufenden Jahres und der kommenden zwei bis drei Jahre sowie auf längere Sicht bekannt. Dabei beinhaltet die längerfristige Projektion die „Einschätzung eines jeden Teilnehmers, in Richtung welchen Wertes sich die einzelnen Variablen bei einer angemessenen Geldpolitik im Zeitverlauf entwickeln dürften, sofern weitere wirtschaftliche Schocks ausbleiben“.[6]
Aufgrund der Art der Visualisierung in der Summary of Economic Projections (SEP) werden die zusammengefassten Projektionen aller Mitglieder des Offenmarktausschusses als „Dot Plot“ (Punktdiagramm) bezeichnet. Die Punkte ergänzen die Projektionen der Mitglieder für BIP-Wachstum, Arbeitslosigkeit und Inflation. Obwohl die einzelnen Beteiligten ihre Prognose für den Leitzinssatz in Verbindung mit weiteren Projektionen für makroökonomische Variablen übermitteln, ist dies in der SEP nicht zu erkennen. Daher können die Marktteilnehmer auch keinen direkten Zusammenhang zwischen den Zinsprojektionen und den Projektionen für die anderen Makrovariablen herstellen.
Das Dot Plot sollte die Kommunikation der US-Notenbank ergänzen, jedoch nicht an die Stelle der Forward Guidance treten, die damals Teil der auf den Pressekonferenzen von der Fed bekannt gegebenen Erklärungen zur Geldpolitik war. So war in der Erklärung des Offenmarktausschusses zur Geldpolitik im Januar 2012 eine ausdrückliche Forward Guidance zu den Zinsen enthalten, wonach der Ausschuss „[…] davon ausgeht, dass die wirtschaftliche Lage […] voraussichtlich ein außergewöhnlich niedriges Niveau des Leitzinssatzes bis mindestens Ende 2014 rechtfertigt“.[7] Auf der begleitenden Pressekonferenz stellte der Vorsitzende der Fed, Ben Bernanke, das Dot Plot vor und kommentierte, dass „[…] elf Mitglieder davon ausgehen, dass der angemessene Leitzins zum Ende des Jahres 2014 bei 1 Prozent oder darunter liegen dürfte; sechs Mitglieder rechnen dagegen für diesen Zeitpunkt mit einem höheren Zinssatz“.[8]
Obwohl die Federal Reserve die Dot Plots nicht als explizites Instrument für die Forward Guidance eingeführt hatte, begannen viele Marktanalysten, sie als solches zu interpretieren. Waren die Signale aus der in der Erklärung enthaltenen Forward Guidance und dem Dot Plot widersprüchlich, redeten die Vorsitzenden des FOMC die Bedeutung des Dot Plots oft klein.
So bekanntermaßen auch Janet Yellen im Jahr 2014: „[…] man sollte das Dot Plot eher nicht als primäres Instrument betrachten, mit dem der Ausschuss Erklärungen zur Geldpolitik abgibt oder abgeben will […]“.[9] Ähnlich äußerte sich 2019 Jerome Powell, der feststellte, dass „[…] das Dot Plot verschiedentlich zu Verwirrung geführt hat. Bis dato ist die in der Erklärung enthaltene Forward Guidance das Hauptinstrument, um die Absichten des Ausschusses zu kommunizieren und die Verwirrung zu minimieren“.[10]
Genauso sehen auch Beobachter der Fed inzwischen das Dot Plot: Sie stufen es nur als fünftwichtigstes Kommunikationsmittel der US-Notenbank ein.[11] Wichtigere Kommunikationsinstrumente sind die Pressekonferenz, die Summary of Economic Projections (ohne Punktdiagramm), die Erklärung des Offenmarktausschusses und die Reden der Präsidentin beziehungsweise des Präsidenten.
In zahlreichen Studien kam man zu dem Ergebnis, dass es die Fed verstanden hat, mit ihrer geldpolitischen Kommunikation auf die langfristigen Zinssätze und die sonstigen Vermögenspreise Einfluss zu nehmen.[12] Einige Untersuchungen deuten auch darauf hin, dass die Dot Plots einen signifikanten, unabhängigen Einfluss auf die Marktzinsen haben.[13] Diese Ergebnisse offenbaren jedoch ein Grundproblem: Es fällt äußerst schwer, den Beitrag des jeweiligen Kommunikationskanals zum Gesamteffekt zu quantifizieren.
Um den kausalen Effekt der Geldpolitik zu bestimmen, definieren Wissenschaftler häufig ein sogenanntes Ereignisfenster vor und nach den geldpolitischen Sitzungen der Zentralbanken. Demnach werden Änderungen der Marktzinsen, zu denen es in diesem Ereignisfenster kommt, der Geldpolitik zugeschrieben.
Dabei besteht jedoch das Problem, dass das Dot Plot zusammen mit der Erklärung zur Geldpolitik veröffentlicht wird. Daher fällt es schwer zuzuordnen, welches Instrument die Zinsänderungen während des Ereignisses verursacht hat. Aus diesem Grund ist auch unklar, ob diese Kanäle tatsächlich komplementäre Informationen liefern oder nur Substitute darstellen.
2.2 Geldpolitische Kommunikation im Eurosystem
Wie sieht nun die geldpolitische Kommunikation des Eurosystems aus? Das Eurosystem nutzte das Instrument der expliziten Forward Guidance erstmals in den Einleitenden Bemerkungen zur Pressekonferenz nach der Sitzung vom Juli 2013. Damals war die Inflation im Euroraum niedrig, und das Eurosystem rechnete mittelfristig mit einem weiterhin gedämpften zugrundeliegenden Preisdruck. Die Zinsen bewegten sich bereits an der effektiven Nullzinsgrenze.
Um für weitere Akkommodierung zu sorgen, ließ der EZB-Rat – das Pendant des Offenmarktausschusses – auf seiner Sitzung im Juli 2013 verlauten, dass er „davon ausgeht, dass die EZB-Leitzinsen für längere Zeit auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben werden“.[14] Für nahezu ein Jahrzehnt griff der EZB-Rat in seinen Erklärungen auf diesen oder einen ähnlichen Wortlaut zurück. Und heute gibt es auch zahlreiche Belege dafür, dass das Eurosystem seine Forward Guidance erfolgreich implementiert hat.[15]
Mit dem Wiederanstieg der Inflation im Jahr 2021 und der großen Unsicherheit, die durch schwere Schocks und strukturelle Veränderungen hervorgerufen wurde, ging das Eurosystem dazu über, Beschlüsse in Abhängigkeit von der Datenlage und von Sitzung zu Sitzung zu fassen, und verzichtete weitgehend auf eine explizite Forward Guidance.
Insbesondere basieren unsere Zinsbeschlüsse nun auf drei Elementen: erstens auf unserer Beurteilung der Inflationsaussichten vor dem Hintergrund aktueller Wirtschafts- und Finanzdaten, zweitens auf der Entwicklung der zugrundeliegenden Inflation und drittens auf der Stärke der geldpolitischen Transmission. Die genannten drei Elemente lassen sich als weitere Konkretisierung unserer Reaktionsfunktion begreifen. Der EZB-Rat legt sich jedoch nicht vorab auf einen bestimmten Zinspfad fest.
Insgesamt sind die Ansätze der geldpolitischen Kommunikation im Federal Reserve System und im Eurosystem abgesehen von der Veröffentlichung des Dot Plots weitgehend vergleichbar. Beide Institutionen betrachten die Erklärungen zur Geldpolitik und die Pressekonferenzen als primäre Kommunikationsinstrumente. Und beide Zentralbanken sind in jüngster Zeit von einer expliziten Forward Guidance zu einem Ansatz übergegangen, bei dem Entscheidungen abhängig von der Datenlage und von Sitzung zu Sitzung getroffen werden.
Dennoch gibt das Eurosystem auch weiterhin Hinweise bezüglich der künftigen Leitzinsentwicklung. Nur geschieht dies auf einer impliziteren Ebene. So lassen sich aus dem Wortlaut der Erklärung zur Geldpolitik und den Antworten der EZB-Präsidentin auf Pressekonferenzen Erkenntnisse zu den zukünftigen Leitzinsen ableiten. Gleiches gilt für Reden und Interviews der Mitglieder des EZB-Rats. Darüber hinaus beeinflusst das Eurosystem die Markterwartungen über die vierteljährlich erstellten Projektionen.[16]
Das Eurosystem verwendet als konditionierende Annahme für seine gesamtwirtschaftlichen Projektionen den Zinssatz, der sich an einem bestimmten Stichtag aus den Finanzmarktpreisen ableiten lässt, und unterscheidet sich damit von einigen anderen Zentralbanken. Konkret bedeutet dies, dass unsere mittelfristige Inflationsprognose mit den Markterwartungen für einen bestimmten Leitzinspfad im Einklang steht. Die Marktteilnehmer können dann den exogenen Leitzinspfad, der in unseren gesamtwirtschaftlichen Projektionen enthalten ist, mit unseren tatsächlichen geldpolitischen Beschlüssen vergleichen, um Erkenntnisse über unsere Reaktionsfunktion zu gewinnen.
Das Eurosystem praktiziert also gewissermaßen eine an Athene orientierte Kommunikation. Sie war bekannt als Göttin der Weisheit und Schutzgöttin vieler griechischer Helden. Statt direkt mit den von ihr Beschützten zu kommunizieren, lieferte Athene oft nur indirekte Anhaltspunkte. Durch diese subtile Lenkung befähigte die Göttin die Helden, die sie beschützte, zu entschlossenem Handeln und klugen Entscheidungen.
3 Ein Dot Plot für das Eurosystem?
Kommen wir aber nun zum eigentlichen Thema: Sollten im Eurosystem Dot Plots eingeführt werden? Auch wenn diese Frage eigentlich nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann: Komplexe Problemstellungen lassen sich, wie bereits erwähnt, nur selten in eine Schwarz-Weiß-Logik pressen.
Im Folgenden werde ich also nicht einfach nur die Vor- und Nachteile der Einführung von Dot Plots im Eurosystem nennen, sondern mich in meiner Darstellung auf drei Punkte konzentrieren: Erstens auf den Einfluss, den Dot Plots auf die Unabhängigkeit des Eurosystems haben könnten. Zweitens auf das Potenzial, das Dot Plots bieten könnten, um unsere geldpolitische Kommunikation effektiver zu gestalten. Und drittens auf die Rolle, die Dot Plots für die Erfassung von Prognoseunsicherheiten in unseren Basisszenarios spielen könnten.
Dabei geht es mir stets nur darum, Leitzinsprognosen als Ergänzung der bereits von den Fachleuten des Eurosystems veröffentlichten gesamtwirtschaftlichen Projektionen zu betrachten. Der Einfachheit halber werde ich nicht darauf eingehen, ob wir unsere derzeitigen Konsensprognosen für makroökonomische Variablen auch durch individuelle makroökonomische Projektionen ergänzen sollten.
3.1 Unabhängigkeit
Beginnen möchte ich mit dem Thema der Unabhängigkeit. Der EZB-Rat besteht aus den sechs Mitgliedern des EZB-Direktoriums und den 20 Präsidentinnen und Präsidenten der nationalen Zentralbanken des Euroraums. Diese Zusammensetzung ähnelt zwar der des Offenmarktausschusses der US-Notenbank, dem die Präsidentinnen und Präsidenten der Federal-Reserve-Banken angehören, doch gibt es hier auch einen wesentlichen Unterschied.
Der Euroraum umfasst keine Regionen innerhalb eines Landes, sondern Nationalstaaten innerhalb einer größeren Union, von denen jeder über einen eigenen Fiskus und nationale Gesetzgebung verfügt und die sich in ihrer wirtschaftlichen Größe und Leistungsfähigkeit erheblich unterscheiden. Deshalb sind wir im EZB-Rat sehr daran interessiert, eine Konsensperspektive herzustellen und auch nach außen zu kommunizieren. Dies ist beispielsweise in unserer Satzung verankert, die bestimmt, dass die Aussprachen in den Sitzungen des EZB-Rats vertraulich sind.
Als wir vor ungefähr zehn Jahren erwogen, Zusammenfassungen der EZB-Ratssitzungen einzuführen – vergleichbar mit den veröffentlichten Protokollen der Sitzungen des Offenmarktausschusses –, ging es uns darum, ein Gleichgewicht zwischen zwei Zielen herzustellen. Einerseits die klare Artikulation der Konsensperspektive, andererseits aber auch die Darstellung des gesamten Meinungsspektrums, sodass die Marktteilnehmer den Prozess der Entscheidungsfindung im EZB-Rat besser nachvollziehen können.[17]
Letztlich kam man im Eurosystem zu der Entscheidung, das gesamte Spektrum der Diskussion ohne Nennung von Namen abzubilden. Trotz der Anonymisierung der vorgebrachten Argumente versuchen die Märkte und die Medien aber weiterhin, die dahinterstehenden Personen zu identifizieren. Da sich viele Mitglieder des EZB-Rats in Reden und Interviews zur Geldpolitik äußern, fällt es nicht besonders schwer, ihre jeweilige Positionierung auszumachen.
Gäbe es also anonymisierte Dot Plots der EZB-Ratsmitglieder, würden die Medien und die Märkte wahrscheinlich ebenfalls versuchen, die einzelnen Mitglieder mit den Punkten in Verbindung zu bringen. Der wichtigste Unterschied zwischen Reden und Dot Plots besteht darin, dass die Mitglieder des EZB-Rats ihre Reden auf freiwilliger Basis halten. Dagegen würden Dot Plots alle Ratsmitglieder dazu zwingen, ihre Einschätzungen der zukünftigen Leitzinsentwicklung regelmäßig kundzutun. Und dies könnte sich möglicherweise auf die Unabhängigkeit des EZB-Rats auswirken.
Sobald Interessenträger auf nationaler Ebene die Einschätzung „ihres“ Vertreters über zukünftige Zinssätze kennen, könnten sie Druck auf ihn ausüben, damit er sich nach den nationalen Interessen richtet. Ich bin mir sicher, dass jedes einzelne Mitglied des EZB-Rats auch dann unabhängig und im besten Interesse des gesamten Euroraums handeln würde, wenn wir Dot Plots veröffentlichen würden. Dennoch sind wir gut beraten, uns nicht in eine Situation zu begeben, in der der Druck auf uns steigen könnte, im Interesse anderer Beteiligter zu handeln.
3.2 Effektivität der geldpolitischen Kommunikation
Mein zweites Thema dreht sich darum, ob ein Dot Plot zu einer signifikant höheren Effektivität der geldpolitischen Kommunikation des Eurosystems führen könnte. Und an dieser Stelle bin ich skeptisch. Zunächst verweise ich auf das bereits dargestellte Problem: Dot Plots könnten im Widerspruch zu der in der Erklärung zur Geldpolitik enthaltenen Konsensaussage stehen. Ich bin jedoch vor allem deshalb skeptisch, weil vergleichende Untersuchungen unterschiedlicher Methoden der geldpolitischen Kommunikation keine eindeutigen Schlüsse zulassen.
Ein Working Paper der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt, dass Zinsprojektionen komplementäre Informationen zu gesamtwirtschaftlichen Projektionen liefern, also nicht redundant sind.[18] Dies könnte als Argument für die Einführung von Dot Plots verstanden werden. In Ländern, in denen sowohl Zinsprojektionen als auch gesamtwirtschaftliche Projektionen veröffentlicht werden, stützen sich die Marktteilnehmer zwar vor allem auf erstere, könnten aber möglicherweise bereits aus den gesamtwirtschaftlichen Projektionen ausreichende Informationen ableiten.
Des Weiteren zeigen Untersuchungen zur Kommunikation der Zentralbanken in Norwegen und Schweden, dass die Veröffentlichung von Zinsprojektionen das Verständnis der Märkte darüber, welche Implikationen neue makroökonomische Daten für die zukünftige Zinsentwicklung haben, nicht verbessert hat.[19] Anders ausgedrückt haben veröffentlichte Zinspfade nicht dazu beigetragen, dass die Marktteilnehmer die Reaktionsfunktionen der Zentralbanken besser nachvollziehen konnten.
Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen aus einer Studie der Reserve Bank of New Zealand. Sie zeigt, dass mit Zinsprognosen verbundene Ankündigungen und solche, die lediglich schriftliche Erklärungen enthalten, zu vergleichbaren Marktreaktionen über die gesamte Zinsstrukturkurve hinweg führen.[20] Die Autoren schlussfolgern, dass die Kommunikation der Zentralbanken zwar von großer Bedeutung ist, die jeweilige Ausgestaltung jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Das Ergebnis entspricht den Erkenntnissen einer wegweisenden Studie von Blinder et al., die bereits im Jahr 2008 zu dem Befund gelangten, dass kein Konsens darüber besteht, was eine optimale Kommunikationsstrategie ausmacht.[21]
Insgesamt erkenne ich keine überzeugenden Belege dafür, dass die Einführung von Dot Plots die geldpolitische Kommunikation des Eurosystems wesentlich verbessern würde.
3.3 Unsicherheit der Projektionen
Kommen wir nun zum dritten und letzten Punkt, nämlich der Unsicherheit. Ich bin mir recht sicher, dass der Umgang mit der mit den Projektionen verbundenen Unsicherheit innerhalb des Eurosystems noch verbessert werden kann. Gegenwärtig fasst der EZB-Rat seine Einschätzung der Unsicherheit in Bezug auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation im Abschnitt Risikobewertung der Erklärung zur Geldpolitik zusammen. Konkret berücksichtigt das Eurosystem die Unsicherheit im Basisszenario zur Inflationsentwicklung auf zweierlei Weise.[22]
Zum einen werden Fächerdiagramme mit symmetrischen Bandbreiten um die Punktprognose erstellt, die aus früheren Projektionsfehlern abgeleitet werden. In diesem Fall dienen frühere Projektionsfehler als genereller Näherungswert für die Unsicherheit. Zum anderen werden in unregelmäßigen Abständen Risikoszenarios veröffentlicht, deren Annahmen von denen der Basisprojektion abweichen. So griff man im Eurosystem während der Pandemie erstmals auf alternative Annahmen zur zukünftigen Entwicklung von Infektionen und Kontaktbeschränkungen zurück, um die makroökonomische Unsicherheit zu veranschaulichen.
Kann der Rückgriff auf Dot Plots die Kommunikation zur Unsicherheit der Inflationsprognosen im Eurosystem verbessern? Hierfür könnte es effektivere Alternativen geben, denn Dot Plots stellen lediglich eine indirekte Methode dar, mit der sich die Unsicherheit bezüglich der Inflationsaussichten vermitteln lässt.
Eine Möglichkeit wäre, unsere Messgrößen der Unsicherheit klarer zu kommunizieren. Auch könnten neue Methoden wie beispielsweise Szenario- und Sensitivitätsanalysen entwickelt und die Fächerdiagramme übersichtlicher gestaltet werden. Für jeden der dargestellten Ansätze sind die Vor- und Nachteile sorgfältig abzuwägen.
Die im Eurosystem aktuell durchgeführte Zwischenüberprüfung der geldpolitischen Strategie kommt da gerade recht. Dabei wird auch die Frage betrachtet, inwieweit Risiken und Unsicherheiten in die geldpolitischen Entscheidungen und die geldpolitische Kommunikation einfließen sollten. Auf die Ergebnisse bin ich schon jetzt sehr gespannt.
4 Schlussbemerkungen
Meine Damen und Herren, ich komme nun zum Schluss. Am Beginn meines Vortrags bin ich auf verschiedene Denkschulen – neukeynesianisch und neoklassisch – eingegangen und habe dargelegt, dass komplexe Fragestellungen nur selten einer Schwarz-Weiß-Logik gehorchen. Für die Kommunikation der Zentralbanken über zukünftige Entwicklungen gibt es sicher zahlreiche vielversprechende Ansätze. Und auch Dot Plots sind zweifellos ein hochinteressantes Instrument der Zentralbankkommunikation.
Dennoch bestehen für mich angesichts der vorherrschenden Evidenz keine zwingenden Argumente dafür, Dot Plots für das Eurosystem einzuführen.
Andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass wir die Art und Weise, wie Unsicherheiten in unseren gesamtwirtschaftlichen Projektionen berücksichtigt werden, verbessern können und auch sollten. Dazu habe ich einige Optionen erläutert, die Gegenstand der laufenden Strategieüberprüfung des Eurosystems sind.
- Vgl. Nagel, J. (2022), Das Mandat der EZB: Gewährleistung von Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet. Rede am Minda de Gunzburg Center for European Studies, Harvard University.
- Vgl. Mankiw, G. (2006), The Macroeconomist as Scientist and Engineer, Journal of Economic Perspectives, Bd. 20(4), S. 29‑46.
- Vgl. Goodfriend, M. und R. King (1997), The New Neoclassical Synthesis and the Role of Monetary Policy, in: NBER Macroeconomics Annual, Bernanke, B. und J. Rotemberg (Hrsg.), MIT Press, S. 231‑283.
- Vgl. Mankiw, G. (2006), a. a. O.
- Vgl. Campbell, J. et al. (2012), Macroeconomic Effects of Federal Reserve Forward Guidance, Brookings Papers on Economic Activity, Bd. 43(1), S. 1‑80. Eine weitere Unterscheidung lässt sich zwischen zeitabhängiger (oder kalenderabhängiger) und zustandsabhängiger Forward Guidance treffen. Erstere bindet die Geldpolitik an einen definierten Zeithorizont, Letztere knüpft zukünftige geldpolitische Maßnahmen an spezifische wirtschaftliche Bedingungen oder Schwellenwerte. Die beiden Konzepte können sich überschneiden und auch miteinander kombiniert werden.
- Vgl. SEP: Compilation and Summary of Individual Economic Projections, 24.-25. Januar 2012.
- Vgl. FOMC Statement, 25. Januar 2012.
- Vgl. Bernanke, B., Transcript of Chairman Bernanke’s Press Conference, 25. Januar 2012.
- Vgl. Yellen, J. (2014), Transcript of Chair Yellen’s Press Conference, 19. März 2014.
- Vgl. Powell, J. (2019), Monetary Policy: Normalization and the Road Ahead, Rede auf dem SIEPR Economic Summit, Stanford Institute of Economic Policy Research, Stanford, Kalifornien.
- Vgl. Wessel, D. und S. Boocker (2024), Federal Reserve communication – survey results, Hutchins Center on Fiscal and Monetary Policy at Brookings.
- Vgl. beispielsweise Gürkaynak, R. et al. (2005), Do Actions Speak Louder Than Words? The Response of Asset Prices to Monetary Policy Actions and Statements, International Journal of Central Banking, Bd. 1(1), S. 55‑93; Wright, J. (2012), What Does Monetary Policy Do to Long‐term Interest Rates at the Zero Lower Bound?, Economic Journal, Bd. 122(564), S. 447‑466; und Swanson, E. (2021), Measuring the effects of federal reserve forward guidance and asset purchases on financial markets, Journal of Monetary Economics, Bd. 118(C), S. 32‑53.
- Vgl. beispielsweise Couture, C. (2021), Financial market effects of FOMC projections, Journal of Macroeconomics, Bd. 67, und Hillenbrand, S. (2023), The Fed and the Secular Decline in Interest Rates, Accepted, Review of Financial Studies.
- Vgl. Draghi, M. und V. Constâncio (2013), Einleitende Bemerkungen zur Pressekonferenz, Frankfurt am Main, 4. Juli 2013.
- Vgl. beispielsweise Altavilla, C. et al. (2021), Assessing the efficacy, efficiency and potential side effects of the ECB’s monetary policy instruments since 2014, Occasional Paper Series der EZB, Nr. 278; Andrade, P. und F. Ferroni (2021), Delphic and Odyssean monetary policy shocks: Evidence from the euro area, Journal of Monetary Economics, Bd. 117, S. 816‑832; Kerssenfischer, M. (2022), Information effects of euro area monetary policy, Economics Letters, Bd. 216 (C); Monetary Policy Committee, Taskforce on Rate Forward Guidance and Reinvestment (2022), Rate forward guidance in an environment of large central bank balance sheets: A Eurosystem stock-taking assessment, Occasional Paper Series der EZB, Nr. 290.
- Im Eurosystem werden viermal jährlich gesamtwirtschaftliche Projektionen erstellt. Im März und September erfolgt dies durch die Fachleute der EZB und im Juni und Dezember durch die Fachleute der EZB zusammen mit jenen der nationalen Zentralbanken.
- Vgl. Morris, S. und H. Shin (2005), Central Bank Transparency and the Signal Value of Prices, Brookings Papers on Economic Activity, Bd. 36(2), S. 1‑66, für eine allgemeine Betrachtung der Rolle der Transparenz.
- Vgl. Hofmann, B. und D. Xia (2022), Quantitative forward guidance through interest rate projections, Working Paper der BIZ, Nr. 1009, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.
- Vgl. Natvik, G. et al. (2020), Does publication of interest rate paths provide guidance?, Journal of International Money and Finance, Bd. 103.
- Vgl. Detmers, G.-A. (2021), Quantitative or Qualitative Forward Guidance: Does it Matter?, Economic Record, Bd. 97, Nr. 319, S. 491‑503.
- Vgl. Blinder, A. et al. (2008), Central Bank Communication and Monetary Policy: A Survey of Theory and Evidence, Journal of Economic Literature, Bd. 46(4), S. 910‑945.
- Vgl. EZB (2023), Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten der EZB, März 2023, Kasten 6, für eine Überblicksdarstellung.