Deutsche Wirtschaft: Herausforderungen meistern Rede auf Einladung des Verbands Die Familienunternehmer

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, vor Ihnen als Vertreterinnen und Vertretern der hessischen Familienunternehmen sprechen zu dürfen. Familienunternehmen spielen für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft eine bedeutende Rolle.

Die Universität St. Gallen pflegt in Kooperation mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young den sogenannten Global Family Business Index.[1] Er führt die 500 größten Familienunternehmen der Welt. Und im vergangenen Jahr stammten 78 Firmen auf dieser Liste – also knapp 16 Prozent – aus Deutschland. Damit steht Deutschland im Ländervergleich auf Platz 2 hinter den Vereinigten Staaten, deren Wirtschaftsleistung aber knapp fünfmal so groß ist. Der Umsatz dieser 78 Unternehmen betrug im Jahr 2023 laut Angaben von Ernst & Young umgerechnet gut eine Billion Euro.[2] Der Anteil am Gesamtumsatz in Deutschland liegt damit bei gut 10 Prozent. Und wohlgemerkt, es handelt sich dabei lediglich um die größten und umsatzstärksten Familienunternehmen.

Aber wenn wir von Familienunternehmen sprechen, haben wir natürlich nicht nur Zahlen im Kopf. Es geht um viel mehr, nicht zuletzt um Tradition. Oft höre ich in diesem Kontext: „Familienunternehmen denken in Generationen, nicht in Quartalsberichten“. Einen langen Atem zu haben, ist aus meiner Sicht gut und wichtig, um Herausforderungen umfassend anzugehen und nachhaltig zu bewältigen. Und Herausforderungen haben wir gegenwärtig genug, daran gibt es keine Zweifel. Ich spreche über gesamtwirtschaftliche Herausforderungen, die auch für Familienunternehmen von Bedeutung sind.

Einmal pro Jahr kürt die Gesellschaft für deutsche Sprache mehrere Begriffe als Wörter des Jahres. „Krisenmodus“ stand im vergangenen Jahr auf Platz eins.[3] Der Begriff „Krisenmodus“ kommt Ihnen vermutlich vertraut vor, wenn Sie an die vergangenen Jahre zurückdenken: Corona-Pandemie, wegbrechende Lieferketten, hohe Energiepreise. Das hat sich auch im Wirtschaftswachstum niedergeschlagen: Es bleibt auch in diesem Jahr schwach.

In meiner Rede möchte ich auf die Faktoren eingehen, die das Wachstum noch immer und anhaltend schwächen. Diese Faktoren können vorübergehender oder aber auch dauerhafter Natur sein. Die dauerhaften Faktoren werde ich in den Fokus nehmen. Denn bei diesen strukturellen Faktoren müssen wir ansetzen, um dauerhaft voranzukommen. Anschließend diskutiere ich, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen konkret helfen können, die aktuelle Wachstumsschwäche zu beenden. Lassen Sie mich aber zuerst die aktuelle wirtschaftliche Schwächephase einordnen. Wie ernst ist die Lage wirklich?

2 Deutschlands Tage als industrielle Supermacht gezählt?

Wie im vergangenen Jahr gehörte Deutschland auch im ersten Halbjahr 2024 zu den Wachstumsschlusslichtern im Euroraum. Im ersten Halbjahr hat die Wirtschaftsleistung hierzulande in etwa stagniert, während sie im Euroraum-Durchschnitt spürbar zugenommen hat. Der globale Vergleich fällt ebenfalls nicht zugunsten Deutschlands aus. Die Wirtschaftsleistung in den Industriestaaten insgesamt stieg im Frühjahr um 0,5 Prozent, darunter in den Vereinigten Staaten sogar um 0,7 Prozent.

Auch im Sommerquartal sind die Konjunkturdaten hierzulande schwach geblieben. Derweil scheinen sich die Medien mit Gruselnachrichten über die deutsche Wirtschaft regelrecht überbieten zu wollen. Deutschlands Tage als industrielle Supermacht sind gezählt. So titele beispielsweise Bloomberg im Februar über die aktuelle wirtschaftliche Lage hierzulande.[4] Die Grundpfeiler des deutschen Industrieapparats sind wie Dominosteine umgefallen, lesen wir weiter in dem Artikel.

Bereits ein flüchtiger Blick in unsere Wirtschaftsgeschichte zeigt: An sich sind solche Schlagzeilen und Diskussionen nichts Neues. Um die Jahrtausendwende durchschritt Deutschland eine ausgeprägte Schwächephase. Im Jahr 2003 titelte die Bloomberg Businessweek die erste Seite ihrer Februar-Ausgabe: „The decline of Germany“.[5] Und Gabor Steingart veröffentlichte Ende 2004 das Buch „Deutschland – der Abstieg eines Superstars“.[6] Droht uns eine Wiederholung jener schmerzhaften Krise? Sind wir im Niedergang?

Ohne meinen Ausführungen vorgreifen zu wollen: Wir befinden uns ohne Zweifel in einem schwierigen Veränderungsprozess. Aber den können wir gestalten. Und wenn wir ihn richtig gestalten, dann sage ich ganz klar: Nein, aus meiner Sicht ist Deutschland nicht im Niedergang! Was unterscheidet die heutige Lage in Deutschland von der nach der Jahrtausendwende? Lassen Sie uns einen Blick auf die Zahlen werfen.

Damals lag die Arbeitslosenquote auf Basis der Berechnung der Internationalen Arbeitsorganisation ILO durchschnittlich bei über 9 Prozent, heute liegt sie bei 3,3 Prozent und damit auch erheblich unter dem Euroraum-Mittel von 6,5 Prozent. Das drängendste Problem am Arbeitsmarkt war damals die Arbeitslosigkeit, heute ist es der Fachkräftemangel.

Darüber hinaus waren die Ertragslage und die Eigenkapitalausstattung der deutschen Unternehmen zuletzt viel besser als vor 25 Jahren. So betrug die Eigenkapitalquote damals im Mittel 23 Prozent, 2020 bis 2022 lag sie durchschnittlich bei 30 Prozent. Bei der Umsatzrendite waren es damals 3,4 Prozent, in der Zeit von 2020 bis 2022 4,5 Prozent. Diese Daten werden mit großer Verzögerung erhoben, daher haben wir noch keine Werte für das vergangene Jahr.

Wo liegen aber die Gründe für die aktuelle Wachstumsflaute? Die Energiekrise traf Deutschland, als Exportnation mit einem besonderen Stellenwert des Verarbeitenden Gewerbes, überdurchschnittlich stark. Denn vor dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine war die Abhängigkeit von günstigen russischen Energielieferungen hoch – zu hoch. Ferner haben die Folgen der hohen Inflation die Wirtschaftsaktivität gedrückt. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher hielten sich beim Konsum zurück. Zudem dämpft die straffe Geldpolitik die Konjunktur. Nicht zuletzt leidet die Industrie bislang an einer schwachen Auslandsnachfrage. Das liegt insbesondere daran, dass die Importe unserer Handelspartner im Euroraum weniger stark zugenommen haben als der Welthandel. Sicher ist, dass einige dieser Faktoren nur vorübergehend wirken. Daher gehen wir davon aus, dass die deutsche Konjunktur langsam wieder etwas Fahrt aufnehmen kann.

3 Strukturelle Herausforderungen

Manche Faktoren wirken aber auch länger. Wir stehen vor umfangreichen strukturellen Herausforderungen, die das Wachstum ebenfalls dämpfen können. So dürften die Energiekosten noch eine ganze Weile höher liegen als vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So ist der Erdgaspreis von rund 240 Euro für Kilowattstunde im August 2022 auf 30 Euro Anfang 2024 gefallen. Im August dieses Jahres lag der Erdgaspreis dann wieder bei rund 38 Euro und damit immer noch deutlich über den durchschnittlichen Preis von 13 Euro im Vorkrisen-Jahr 2019.

Aber auch die angestrebte Umstellung auf eine CO2-freie Energieversorgung wird zumindest für einen längeren Übergangszeitraum kostspielig sein. Hinzu kommen weitere Herausforderungen wie der demografische Wandel, das Verringern einseitiger Abhängigkeiten von Importen und eine Fragmentierung des internationalen Handels.

Vor allem der Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft erfordert sehr hohe Investitionen. So schätzt eine im Auftrag der KfW durchgeführte Studie das Investitionsvolumen, das notwendig sein wird, um die Net-Zero-Ziele in Deutschland bis zur Mitte des Jahrhunderts zu erreichen. Das Ergebnis: etwa 5 Billionen Euro. [7] Eine McKinsey-Studie kommt sogar zu einer noch höheren Zahl: 6 Billionen Euro.[8] Wie bei der energetischen Sanierung eines Gebäudes sind hierin Investitionen enthalten, die ohnehin anstehen. Aber auch die geschätzten Mehrinvestitionen sind erheblich. In der KfW-Studie sind das rund 72 Milliarden Euro pro Jahr, also knapp 2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.

Und auch wenn die erforderliche, umfassende Digitalisierung große Chancen bietet: Sie erfordert ebenfalls Investitionen, ganz zu schweigen von Schulungen oder dem Überdenken von Abläufen und Geschäftsfeldern. Wie entwickeln sich die Investitionen aber gegenwärtig in Deutschland? Werfen wir einen Blick auf die Statistik.

Demnach sind die Investitionen in Bauten, Ausrüstungen und sonstige Anlagen in Deutschland über die vergangenen Jahre nicht gewachsen. Und dass die Wirtschaftsleistung im Frühjahr leicht geschrumpft ist, lag nicht zuletzt an rückläufigen Investitionen. Mehr noch, in einer aktuellen Analyse stellt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young fest, dass die Zahl der ausländischen Investitionsprojekte in Deutschland bereits das sechste Jahr in Folge sinkt.[9] Alles in allem: Trotz der genannten Herausforderungen und des Investitionsbedarfs, der damit verbunden ist, sieht es derzeit nicht nach einem Investitionsboom aus.

Was sind aber die Gründe für die schwache Investitionsneigung? Mit Hilfe unserer Unternehmensumfrage, Bundesbank Online Panel – Firmen, sind wir dieser Frage nachgegangen. Dabei wurden im dritten Quartal 2023 circa 7.400 deutsche Unternehmen nach ihren Investitionsmotiven gefragt. Die Ergebnisse haben wir in unserem Monatsbericht Mai veröffentlicht.[10]

Demnach war das schlechte makroökonomische Umfeld die wichtigste Ursache für rückläufige Investitionen. Dicht darauf folgen hohe Energie- und Lohnkosten, Fachkräftemangel, Unsicherheit bei der Regulierung und eine hohe Steuer- und Abgabenlast. Geringe öffentliche Förderung, ineffiziente öffentliche Verwaltung und mangelhafte digitale Infrastruktur spielen eine geringere Rolle. Diese Befunde mögen ein Jahr alt sein, es spricht aber viel dafür, dass sie weiter gültig sind.

4 Aufgaben der Wirtschaftspolitik

Das führt zur Frage: Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um die Investitionshemmnisse aus dem Weg zu räumen oder zumindest abzumildern? Was sie sicherlich nicht kann, ist, das schwierige globale Umfeld direkt zu beeinflussen. Bei einigen anderen Hemmnissen ist es jedoch durchaus möglich und wünschenswert, sie wirtschaftspolitisch anzugehen. Auf drei Felder möchte ich zu sprechen kommen: die Energie- und Klimapolitik, Bürokratielasten und den Arbeitsmarkt.

4.1 Energie- und Klimapolitik

Das erste Feld betrifft primär die Planungssicherheit und Verlässlichkeit bei der Energie- und Klimapolitik. Dass die Begriffe Planungssicherheit und Verlässlichkeit nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt uns der sogenannte Economic Policy Uncertainty Index – also der Index der wirtschaftspolitischen Unsicherheit. Der Index wurde von den Ökonomen Scott Baker, Nicholas Bloom und Steven Davis entwickelt und basiert auf der Analyse einschlägiger Zeitungsartikel.[11] Nach diesem Index ist die wirtschaftspolitische Unsicherheit in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich stärker als im europäischen Durchschnitt gestiegen.[12] Investitionsentscheidungen für grüne Technologien sind meist mit irreversiblen Kosten verbunden. Bei Unsicherheit über die zukünftige Politik zögern Unternehmen daher verständlicherweise, bevor sie solche Entscheidungen treffen.

Zwar gibt es an der Grundrichtung keinen Zweifel: Wir müssen CO2-neutral werden, wenn wir nur ein wenig an die nachfolgenden Generationen denken. Im Detail gibt es aber sehr wohl Unsicherheit: Wie entwickeln sich die Kosten fossiler Energieträger? Wie entwickeln sich die Kosten der klimafreundlichen Energie und wird sie zuverlässig zur Verfügung stehen? Wie wird der Staat regulieren, besteuern, fördern?

Um solche Unsicherheiten über die Energiewende zu reduzieren, ist ein transparenter, zielführender und konsistenter Gesamtrahmen unerlässlich. Zu diesem Rahmen gehören ausreichend Kapazitäten, um klimaneutrale Energie zu importieren und zu speichern, und Reservekraftwerke, falls „Dunkelflauten“ auf hohen Energiebedarf prallen. Und natürlich ein leistungsfähiges Energienetz. Immer wichtiger wird daher auch der Ausbau der Stromverbindungen – innerhalb Deutschlands von Nord nach Süd, aber auch zu unseren europäischen Nachbarn.

Das aus Sicht der Bundesbank zentrale Instrument zum Erreichen von Klimazielen sollte die Bepreisung von CO2-Emissionen sein. Denn die CO2-Bepreisung sorgt dafür, dass dort eingespart und investiert wird, wo dies mit den geringsten Kosten möglich ist. Entscheidend ist aber, die CO2-Bepreisung möglichst breit, einheitlich und vorhersehbar anzuwenden.

Dabei schafft eine ambitionierte CO2-Bepreisung nicht nur Anreize für die Nutzung von erneuerbaren Energien, sondern auch für eine höhere Energieeffizienz. Wie wichtig Fortschritte bei der Energieeffizienz sind, um die Klimaziele nicht zu verfehlen, haben wir in unserem Monatsbericht April gezeigt.[13] Die Steigerungen der Energieeffizienz senken die gesamtwirtschaftliche Energieintensität und begünstigen dadurch die gesamtwirtschaftliche Produktion. Damit wirken sie den konjunkturdämpfenden Impulsen entgegen, die von einem höheren CO2-Preis ausgehen dürfen.

Es hängt also nicht zuletzt vom energiesparenden Fortschritt ab, welche Produktionsverluste oder -gewinne mit dem Erreichen der Klimaziele einhergehen würden. Um Energieeffizienz zu steigern, sind neben der CO2-Bepreisung auch Subventionen in Forschung und Entwicklung ein denkbares Instrument. Subventionen sollten aber mit Maß und Ziel angewendet werden.

Es geht mir hier nicht nur um die Belastung der Staatsfinanzen, die wir natürlich auch im Auge behalten müssen. Wenn Staatseingriffe zu komplex und zu umfangreich werden, können sie Marktanreize erheblich verzerren. Denkbar ist es beispielsweise, dass Unternehmen notwendige Investitionen in der Hoffnung auf zukünftige Subventionen immer wieder aufschieben. Manche Subventionen, die noch im Energie- und Verkehrsbereich bestehen, laufen den Klimazielen gar entgegen. Sie wirken damit in gewissem Sinne wie ein negativer CO2-Preis.[14] Und nicht zuletzt führt ein Übermaß an Staatseingriffen am Ende zu Bürokratielasten.

4.2 Bürokratielasten

Damit bin ich beim zweiten Feld, auf dem die Wirtschaftspolitik das Investitionsklima verbessern kann: die Belastung durch Bürokratie. Hier sollten wir zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten unterscheiden. Zum einen geht es um das Ausmaß der Anforderungen, die an Unternehmen gestellt werden. Beispielsweise wurden jüngst das Lieferkettengesetz und Fragen des Datenschutzes intensiv diskutiert. Hier sollte die Politik darauf achten, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Auch wenn die Ziele legitim sind, muss die Umsetzbarkeit im Blick behalten werden.

Zum anderen ist die Bürokratie-Geschwindigkeit von Bedeutung. Staus gibt es in Deutschland nicht nur auf Autobahnen, sondern auch bei Genehmigungsprozessen. So kann es manchmal Jahre dauern, bis ein Windrad in Betrieb gehen kann. Gerade mit Blick auf die Geschwindigkeit und Effizienz der Bürokratie sollten wir Digitalisierung als eine große Chance begreifen. Verwaltungsprozesse können mithilfe digitaler Technologien vereinfacht und beschleunigt werden. Das ist übrigens durchaus im Interesse der Verwaltung, denn auch sie ist vom Fachkräftemangel betroffen. Dabei scheint es für die Digitalisierung der Verwaltung teils naheliegend, Prozesse stärker zu bündeln.

Das heißt, gezielt Verantwortlichkeiten auf zentrale Stellen zu übertragen, die kostengünstig einheitliche Ansätze entwickeln. Das bietet die Chance auf Skalenerträge, wenn die relevanten Kosten pro Vorgang etwa durch einen größeren Anwendungsbereich sinken. Ich denke hier etwa an die Digitalisierung im Bereich der Finanzverwaltung: Hier dürften sich Effizienzreserven heben lassen, wenn bestimmte Aufgaben an eine einzelne Stelle delegiert werden. Auch ein moderner Föderalismus könnte helfen, Effizienzreserven zu heben: Dann nämlich, wenn die Verantwortlichen tatsächlich von den best practices anderer lernen.

Und hier spreche ich nicht nur als Ökonom, sondern auch als Präsident einer großen Behörde. Oft erfordern Bürokratieabbau und Digitalisierung große Anstrengung und Ausdauer. Aber sie bieten auch große Chancen. Nicht umsonst listete die Gesellschaft für deutsche Sprache 2023 „KI-Boom“ als ein anderes Wort des Jahres, und zwar auf Platz acht.

4.3 Arbeitsmarkt

Das dritte Feld, auf dem Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle spielen kann, ist der Arbeitsmarkt. Fachkräftemangel beklagen Sie als Unternehmerinnen und Unternehmer schon seit vielen Jahren. Von der aktuellen konjunkturellen Schwäche abgesehen, ist das Problem aufgrund des demografischen Wandels immer größer geworden. Und zukünftig wird es noch größer werden.

Als ein Indikator für die Anspannung am Arbeitsmarkt wird oft die Zahl der offenen Stellen je Arbeitslosen herangezogen. Bis 2014 gab es auf zehn Arbeitslose etwa drei offene Stellen.[15] Gegenwärtig stehen zehn Arbeitslosen etwa sechs offene Stellen gegenüber. Und auch die Zahl der offenen Stellen ist nach Ende der Pandemie auf einen Höchststand geklettert und kommt davon kaum herunter. Es mangelt an Fachkräften, es fehlt an Arbeitskräften.

Eine Reihe von Maßnahmen ist vorstellbar, um diesen Mangel zu vermindern: Frauen und Älteren bessere Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit eröffnen, gezielt Fachkräfte aus dem Ausland anwerben, Aus- und Weiterbildung stärken und Langzeitarbeitslose und Zugewanderte besser in Arbeit vermitteln.

Wir sollten auch nicht die Gruppen aus den Augen verlieren, die bislang nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen – „Stille Reserve“ genannt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug die Stille Reserve in Deutschland zuletzt fast 3,2 Millionen Personen.[16] Von diesen haben fast 60 Prozent ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau. Beim Blick auf die Stille Reserve zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So geben zahlreiche Frauen an, aufgrund von Betreuungspflichten keine Arbeit aufnehmen zu können. Dieses ungenutzte Arbeitskräftepotenzial sollten wir besser ausschöpfen. So sind erweiterte Betreuungsangebote für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige wichtig, um mehr Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Ich bin sicher, dass bereits viele von Ihnen in Ihren Unternehmen Maßnahmen ergriffen haben, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern: Ein Betriebskindergarten, Belegungsrechte in anderen Kitas, flexible Arbeitszeitmodelle, Home-Office – die Liste möglicher Maßnahmen ist lang.

Auch die Beschäftigung älterer Menschen ließe sich ausweiten. Etwa, wenn das gesetzliche Rentenalter nach 2030 an die Lebenserwartung gekoppelt würde. Auf diese Weise könnte das Verhältnis von Rentenjahren zu Erwerbsjahren annähernd stabilisiert werden. Ohne diese Kopplung würde das Verhältnis kontinuierlich zunehmen, wenn die Lebenserwartung weiter steigt. Für die kurze Frist ist es zudem denkbar, finanzielle Anreize für die Frühverrentung einzuschränken.

Schließlich ist es wichtig, für ein gutes Beschäftigungs- und Investitionsklima darauf zu achten, dass die Abgabenlast auf Arbeit und Kapital angemessen bleibt. So hat Deutschland im internationalen Vergleich eine hohe Unternehmenssteuerlast.[17]

Die Bundesregierung hat die drei wirtschaftspolitischen Felder, auf die ich gerade eingegangen bin, im Blick. Das zeigt ihre Wachstumsinitiative vom 17. Juli dieses Jahres. Dabei soll das Bündel von 49 Maßnahmen unter anderem Arbeitsanreize erhöhen, darunter auch mehr Anreize für längere Erwerbstätigkeit bei Älteren schaffen, Bürokratieabbau beschleunigen und den weiteren Ausbau von erneuerbaren Energie sicherstellen. Die Wachstumsinitiative ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um die gegenwärtigen Herausforderungen anzugehen. Vieles hängt jedoch noch von der Umsetzung ab. Und es bleibt weiterhin noch viel zu tun.

Gerade als Ökonom darf ich allerdings nicht vergessen, was der Begriff „Budgetbeschränkung“ heißt: Es ist nicht einfach, mit den vielen Herausforderungen umzugehen, wenn gleichzeitig die öffentlichen Kassen knapp sind. Wohl unvermeidlich ist vor diesem Hintergrund eine kritische Überprüfung der wirtschaftspolitischen Prioritäten. Und das wird auch auf der Agenda bleiben, wenn die Schuldenbremse reformiert würde. Die Bundesbank hält eine Reform für vertretbar, wenn solide Staatsfinanzen damit weiter garantiert werden. Und wir haben stabilitätsorientierte Reformvorschläge unterbreitet.

4.4 Mehr Finanzierung durch Kapitalmarktunion

Meine Damen und Herren,

ich habe diskutiert, was die Politik tun kann, um das Investitionsklima in Deutschland zu verbessern. Es geht aber nicht nur darum, ob sich eine Investition auf längere Sicht lohnt oder nicht. Ein Investitionsvorhaben muss auch finanziert sein.

Das bringt mich zu der europäischen Perspektive. Denn zu oft stoßen Unternehmen an innereuropäische Grenzen, wenn sie nach einer Finanzierung suchen. Ein integrierter gesamteuropäischer Kapitalmarkt könnte europäischen Unternehmen mehr Finanzmittel für notwendige private Investitionen zur Verfügung stellen. Um einen integrierten Kapitalmarkt für Europa zu schaffen, müssen wir aber bei der Banken- und Kapitalmarktunion dringend vorankommen.

Ein Zahlenbeispiel: Die Märkte für Verbriefungen wiesen in der EU 2020 ein Volumen von etwa 800 Milliarden Euro auf. In den Vereinigten Staaten belief sich das Volumen ohne staatlich garantierte Produkte auf etwa 3,2 Billionen US-Dollar. [18] Es handelt sich also um eine andere Dimension, obwohl EU und USA bei der Wirtschaftskraft gemessen an der Kaufkraftparität vergleichbar sind.[19] Nach der Finanzkrise brach der europäische Verbriefungsmarkt zusammen und erholte sich seitdem nicht vollständig. Das Volumen der Verbriefungen in den USA hat hingegen den Stand vor der Finanzkrise bereits übertroffen, auch wenn hier andere Marktstrukturen vorliegen, die mit den europäischen nicht exakt vergleichbar sind.

Sie denken vielleicht: Verbriefungen haben ein schlechtes Image. Sie haben Recht. Nach der Finanzkrise 2008 waren sie ein Aushängeschild einer „schlechten Finanzmarktinnovation“, und sie wurden primär mit dem Weiterverkauf von potenziell notleidenden Krediten an ahnungslose Investoren assoziiert. Als damaliger Leiter des Finanzkrisenstabs der Bundesbank hatte ich beste Gelegenheit, die Krisendynamik im Detail zu beobachten.

Tatsächlich offenbarte die Finanzkrise die Schwächen des Verbriefungsprozesses, die vor allem bei sehr komplexen Verbriefungen zum Tragen kommen können. Das betraf Defizite bei Transparenz, Risikomanagement und Bewertungsverfahren. Allerdings können Verbriefungen mit einer passenden Struktur und guter Regulierung durchaus einen Mehrwert für unsere Ökonomie bieten. Verbriefungsmärkte ergänzen andere langfristige Finanzierungsquellen in der Realwirtschaft. Sie geben den Unternehmen die Möglichkeit, ihre Finanzierung breiter aufzustellen.

Besonders kleine und mittlere Unternehmen profitieren davon, denn sie erhalten dadurch einen indirekten Zugang zu den Kapitalmarktinvestoren. Darüber hinaus können Verbriefungen die Bankbilanzen entlasten und zusätzliche Räume für die Kreditvergabe an den privaten Sektor schaffen. Gut regulierte und strukturierte Verbriefungsmärkte können die Allokation der Ressourcen in einer Wirtschaft verbessern und für eine bessere Risikoverteilung sorgen.[20] Das kann die Finanzierungskosten senken und das Wirtschaftswachstum erhöhen.

Daher ist die Förderung des Verbriefungsmarktes ein wichtiges Element der EU-Pläne zu einer Kapitalmarktunion. Aber es geht um mehr. Integrierte Finanzaufsichtsstrukturen sollen geschaffen werden. Nationale Insolvenzregeln, Rechnungslegung und Wertpapierrecht gilt es zu harmonisieren. Das Ziel ist, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle auf der EU-Ebene aktiven Finanzmarktteilnehmer zu gewährleisten. Und solange dieses Ziel abstrakt bleibt, ist auch praktisch niemand dagegen. Wenn es allerdings um konkrete Verhandlungen und Entscheidungen geht, endet die Einigkeit leider oft. Denn die Harmonisierung nationaler Regeln klappt nicht ohne Kompromisse.

Erfreulicherweise kommen immer mehr politische Entscheidungsträger in Europa zur Ansicht, dass wir einen gemeinsamen Kapitalmarkt dringend brauchen. In den vergangenen Monaten ist bei diesem Vorhaben einiges in Bewegung gekommen. So sehe ich uns zum Beispiel bei der Entwicklung eines europäischen Verbriefungsmarktes auf einem guten Weg. Wir sollten nach und nach die Barrieren beseitigen, die die europäischen Kapitalmärkte voneinander trennen!

5 Schlussbemerkungen

Meine Damen und Herren,

lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Was die strukturellen Herausforderungen angeht, sind wir gefordert, die notwendigen Veränderungen anzustoßen und gut zu gestalten. Ich bin sicher, dass wir das können. Die Grundpfeiler des deutschen Industrieapparats sind weiter vorhanden, und der Standort Deutschland ist besser als sein derzeitiger Ruf. Nach der Wachstumsschwäche der Jahrtausendwende galt Deutschland mehr als eine Dekade lang als ein wirtschaftliches Kraftzentrum Europas.[21] Wir können das als Ansporn sehen, klug und ausreichend in unsere Zukunft zu investieren.

Die Wirtschaftspolitik kann dabei ein gutes Fundament legen, sie ist allerdings nicht allmächtig. Es kommt entscheidend auf die Unternehmen und ihre Beschäftigten an. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Familienunternehmen in einem Krisenmodus höhere Widerstandskraft haben als andere Firmen.[22] 

Daher bin ich davon überzeugt, dass Sie alle als Familienunternehmerinnen und -unternehmer einen wichtigen Beitrag leisten, damit die deutsche Wirtschaft die Herausforderungen der Gegenwart meistert. Und damit dazu beiträgt, dass Deutschland weiterhin zukunftsfähig bleibt.

Fußnoten:

  1. EY and University of St.Gallen Global Family Business Index.
  2. EY, How the largest family enterprises are outstripping global economic growth, 16. Januar 2023.
  3. GfdS, GfdS wählt »Krisenmodus« zum Wort des Jahres 2023, Pressemitteilung vom 8. Dezember 2023.
  4. Eckl-Dorna et al., Deutschlands Tage als industrielle Supermacht sind gezählt, Bloomberg.com, 10. Februar 2024.
  5. Ewing, J., The decline of Germany, Bloomberg Businessweek, Ausgabe vom 16. Februar 2003.
  6. Steingart, G, (2004), Deutschland – der Abstieg eines Superstars, München.
  7. Brand, S., Römer, D. und M. Schwarz (2021), 5 Bio. EUR klimafreundlich investieren – eine leistbare Herausforderung, KfW Research Nr. 350,
  8. McKinsey & Company (2021), Net-Zero Deutschland: Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2045.
  9. McKinsey & Company (2021), Net-Zero Deutschland: Chancen und Herausforderungen auf dem Weg zur
  10. EY, Ausländische Investitionen in Deutschland sinken im sechsten Jahr in Folge – niedrigster Stand seit 2013, Pressemitteilung vom 2. Mai 2024.
  11. Deutsche Bundesbank, Inländische Investitionshemmnisse für deutsche Unternehmen, Monatsbericht Mai 2024, S. 88f.
  12. Baker, S. R., Bloom, N. and S. J. Davis (2016), Measuring Economic Policy Uncertainty, The Quarterly Journal of Economics, Vol.131 (4), p. 1539‑1636.
  13. Economic Policy Uncertainty Index 
  14. Deutsche Bundesbank, Energieeffizienzgewinne: Folgen für CO2-Emissionen und Wirtschaftsleistung in Deutschland, Monatsbericht April 2024.
  15. Plötz et al. (2024), Klimaschädliche Subventionen entsprechen negativen CO2-Preisen, Kopernikus-Projekt Ariadne, Potsdam.
  16. IAB, IAB-Monitor Arbeitskräftebedarf 1/2024: Die Zahl der offenen Stellen ist im Vergleich zum Vorjahresquartal um rund ein Zehntel gesunken, 25. Juni 2024
  17. Statistisches Bundesamt, Ungenutztes Arbeitskräftepotenzial 2023: Knapp 3,2 Millionen Menschen in „Stiller Reserve“, Pressemitteilung Nr. 192 vom 16. Mai 2024.
  18. Vgl. ZEW, Mannheim Tax Index – Effective Tax Burdens in Country Comparison.
  19. Vgl. EBA (2022), Joint Committee advice on the review of the securitisation prudential framework (Banking), S. 24. Zum Zweck der Vergleichbarkeit wurden das Gesamtvolumen des US-Verbriefungsmarktes (13.131 Mrd. USD) um Agency-ABS (75 %) und das Gesamtvolumen des EU-Verbriefungsmarktes (3.058 Mrd. Euro) um sonstige CB (11 %) und Mortgage CB (63 %) bereinigt.
  20. Eurostat (2024), Purchasing power parities in Europe and the world – Statistics Explained (europa.eu)
  21. EZB und Bank of England, The impaired EU securitisation market: causes, roadblocks and how to deal with them, discussion paper, March 2014.
  22. Dustmann et al. (2014), From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany's Resurgent Economy, Journal of Economic Perspectives, Vol. 28 (1), p. 167‑188.
  23. Buchner et al. (2021), Resilienz von Familienunternehmen – Eine systematische Literaturanalyse, Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 73, Heft 3, S. 225f.