„China würde sicher über Vergeltung nachdenken“ Interview mit dem Handelsblatt

Das Interview führten Stefan Reccius (Handelsblatt), Dominique Seux (Les Échos), Federico Fubini (Corriere della Sera) und Carlos Segovia (El Mundo).

Herr Nagel, ist es richtig anzunehmen, dass eine Zinssenkung durch die EZB im Juni so gut wie beschlossene Sache ist?

Das sind noch ungelegte Eier. Wenn sich die jüngste Einschätzung des EZB-Rats durch die eingehenden Daten und unsere kommende Projektion bestätigt, ist es plausibel, dass wir im Juni die erste Zinssenkung erleben werden. Aber selbst wenn die Zinssätze im Juni zum ersten Mal gesenkt werden, bedeutet das nicht, dass wir die Zinssätze in den folgenden Sitzungen des EZB-Rates weiter senken werden. Wir sind nicht auf Autopilot. Die Unsicherheit über die künftige Wirtschafts- und Preisentwicklung ist nach wie vor groß. Deshalb werden wir von Sitzung zu Sitzung entscheiden. Im Moment bin ich mit dem, was wir mit unseren zehn Zinserhöhungen erreicht haben, zufrieden und denke, dass wir für eine erste Zinssenkung bereit sein könnten.

Glauben Sie, dass sich die Inflation nachhaltig auf das Zwei-Prozent-Ziel zubewegt?

Es kann durchaus Monate geben, in denen die Inflation ein wenig anzieht, da einige Preise zu Schwankungen neigen, insbesondere die Energiepreise. Im Großen und Ganzen erwarte ich, dass die Inflation weiter in Richtung unseres Zwei-Prozent-Ziels sinkt und es im Jahr 2025 erreicht. Aber wir müssen vorsichtig bleiben. Wir sollten die Zinsen nicht vorschnell senken und das Erreichte gefährden.

Der Aufholprozess bei den Löhnen war ein großes Problem für die Inflationsaussichten. Sind Sie jetzt beruhigt, dass das Lohnwachstum nicht auf eine Lohn-Preis-Spirale hindeutet?

Die Löhne sind in letzter Zeit recht stark gestiegen, insbesondere in Deutschland. Dies geschah jedoch, nachdem die Kaufkraft der Löhne durch die hohe Inflation erheblich geschwächt worden war. Die Löhne holen auf und gewinnen an Kaufkraft zurück, da die Gewerkschaften von einer sehr guten Verhandlungsposition und einem robusten Arbeitsmarkt profitieren. Ich sehe jedoch keine Anzeichen für eine sich selbst verstärkende Lohn-Preis-Spirale.

Das klingt nach Entwarnung.

Ich rechne damit, dass sich der Lohnanstieg bei weiter zurückgehender Inflation abschwächen wird. Dies ist jedoch nur eine Erwartung und einer der Faktoren, die für Unsicherheit sorgen. Ein stärkeres Lohnwachstum kann sich in einem stärkeren Preisdruck niederschlagen. Wir müssen das Lohnwachstum, die Gewinnspannen der Unternehmen und ihre Auswirkungen genau im Auge behalten. Im Moment scheint die Entwicklung in die richtige Richtung zu gehen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich für eine Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro ausgesprochen. Wie stehen Sie als Zentralbanker dazu?

In Deutschland ist es Aufgabe der unabhängigen Mindestlohnkommission, regelbasierte Empfehlungen zu geben. Ich werde mich an dieser Stelle nicht zu irgendwelchen Vorschlägen äußern.

Es gibt einige positive Signale aus der deutschen Industrie. Erkennen Sie erste Anzeichen für einen Aufschwung in Deutschland und im Euro-Raum insgesamt?

Wir sehen in der Tat einige ermutigende Signale aus der deutschen Wirtschaft. Vor ein paar Monaten waren wir weniger optimistisch und erwarteten, dass die Wirtschaft im ersten Quartal schrumpfen würde. Stattdessen expandierte sie sogar etwas. Jetzt erwarten wir für 2024 eine leicht positive Wachstumsrate.

Wie wird sich das Wachstum Ihrer Meinung nach beschleunigen?

In Deutschland stützte der milde Winter die Bautätigkeit. Auch dem verarbeitenden Gewerbe ging es etwas besser, aber die Auftragseingänge waren immer noch schwach, und wir vermissen konkrete Anzeichen für einen breit angelegten Aufschwung. Im weiteren Verlauf des Jahres könnte die Dynamik von der Konsumseite her einsetzen, da die Reallöhne (nach Abzug der Inflation, Anm. d. Red.) aufholen. Da die Inflation weiter zurückgeht, dürften sich der Konsum und die Wirtschaftstätigkeit insgesamt im gesamten Euro-Gebiet festigen.

Im Gegensatz zur EZB ist es unwahrscheinlich, dass die Federal Reserve die Zinsen in nächster Zeit senkt. Sollte dies einen Einfluss auf die Geldpolitik der EZB haben und, wenn ja, in welche Richtung?

Unsere Aufgabe ist es, die Preisstabilität im Euro-Raum zu sichern. Die Inflationsentwicklung in den Vereinigten Staaten in den letzten zwei bis drei Jahren war anders, weil sie stärker nachfragegetrieben war. In Europa spielten Angebotsunterbrechungen eine größere Rolle. Wir stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen und können unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Natürlich hat die US-Geldpolitik Spill-over-Effekte. So kann beispielsweise der Dollar aufwerten, was viele Rohstoffe und Importe aus den USA verteuert und somit zu einem Inflationsdruck im Euro-Raum führt. Es gibt also sicherlich einige indirekte Auswirkungen. Wir beobachten die Daten genau. Die Daten und unser Ausblick sind für unsere Einschätzungen maßgeblich, nicht die Entscheidungen der Federal Reserve.

Europa steht unter dem Druck von grüner Transformation, Verteidigungsausgaben, demografisch bedingtem Mangel an Arbeitskräften und Deglobalisierung. Besteht die Gefahr, dass die Inflation strukturell über dem Ziel der EZB liegt? Wenn ja, sollte die EZB dann mit relativ hohen Zinssätzen reagieren?

Es könnte einige Faktoren geben, die langfristig einen Aufwärtsdruck auf die Inflation ausüben könnten. Die Diversifizierung unserer Lieferketten und die Stärkung der Widerstandsfähigkeit unserer Volkswirtschaften haben beispielsweise ihren Preis: Der Preisdruck könnte etwas höher sein. Ein weiterer Faktor könnte der Arbeitsmarkt sein. In Deutschland haben wir heute 47 Millionen Erwerbstätige. Doch trotz der hohen Zuwanderung wird es bald weniger Arbeitskräfte geben, da unsere Bevölkerung altert. Dieser Arbeitskräftemangel könnte einen Aufwärtsdruck auf Löhne, Kosten und Preise ausüben. Natürlich muss die Geldpolitik auf der Ebene des Euro-Gebiets auf solche Entwicklungen reagieren. Das ist etwas, das wir im Auge behalten.

In wie vielen Jahren werden wir im Euro-Raum wieder Zinssätze unter 2,5 Prozent sehen?

Die ehrliche Antwort, die ich geben kann, lautet: Ich weiß es nicht. Es gibt zu viele Ungewissheiten da draußen.

Schadet Deutschland durch das Festhalten an der Schuldenbremse dem Potenzial für Investitionen und Wachstum? Warum ist die 60-Prozent-Grenze für Deutschland immer noch so wichtig, wenn die Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in anderen Ländern viel höher ist?

Nun, die 60-Prozent-Schwelle ist im Maastricht-Vertrag verankert und bleibt ein wichtiger Eckpfeiler des neuen Regelwerks. Ich sehe es als Vorteil für Europa, dass seine größte Volkswirtschaft einer seiner Stabilitätsanker ist. Wir von der Bundesbank können uns eine stabilitätsorientierte Reform der Schuldenbremse vorstellen. Für den Fall, dass der Schuldenstand unter 60 Prozent des BIP fällt, würde die Reform höhere Defizite zulassen. Dieser Spielraum könnte genutzt werden, um die öffentlichen Investitionen zu erhöhen. Aber im Allgemeinen denke ich, dass die Schuldenbremse unserer Wirtschaft gute Dienste geleistet hat.

Das klingt nach einem allzu verhaltenen Ansatz, wenn man bedenkt, dass unter anderem der IWF, die OECD und der Sachverständigenrat eine entschlossene Reform der Schuldenbremse fordern. Ist es nicht an der Zeit für eine radikalere Reform angesichts des enormen Investitionsbedarfs?

Ich würde unseren Ansatz nicht als verhalten, sondern als klug bezeichnen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat sich auf unseren Vorschlag bezogen. Natürlich sind viele Investitionen nötig, und die öffentliche Hand muss Prioritäten setzen, um ihren Beitrag zu leisten. Aber wir können nicht alles ausschließlich mit öffentlichen Mitteln finanzieren, wir müssen den privaten Sektor einbeziehen. Das Kapital, das wir für die grüne Transformation unserer Volkswirtschaften und für die Digitalisierung brauchen, ist vorhanden. Wir müssen es nur auf bessere Weise mobilisieren. Eine Möglichkeit dazu ist die Verbriefung.

Banken sollen es also leichter haben, Kredite an Unternehmen gebündelt an der Börse zu verkaufen. Wurde das Instrument der Verbriefung in Europa nach der großen Finanzkrise ohne guten Grund stigmatisiert?

Nach dem Zusammenbruch von Lehman wurde deutlich, dass es für dieses Stigma sicherlich gute Gründe gab, denn das Etikett der Verbriefung wurde benutzt, um undurchsichtige Finanzierungsmethoden zu verbergen. In Europa wurden die wichtigsten Schwachstellen im Rahmen der Regulierung nach der Krise angegangen. Richtig eingesetzt, kann die Verbriefung ein intelligentes, sicheres und wichtiges Instrument sein, um Risiken über die Finanzmärkte zu verteilen und erhebliche Mengen an privatem Kapital zu mobilisieren.

Die EU-Kommission denkt aktiv über neue Zölle auf chinesische Elektroautos nach. Haben Sie eine Meinung zu einer solchen politischen Option?

Es ist klar, dass es gleiche Wettbewerbsbedingungen geben sollte, wenn wir über den Handel zwischen der Europäischen Union und China sprechen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die von den Vereinigten Staaten letzte Woche angekündigten Zölle eine wirtschaftlich vernünftige Lösung sind. Zölle auf ausländische Produkte verteuern in der Regel die Einfuhren, was die Preise im Inland erhöht und den Verbrauchern schadet. Außerdem würde China sicherlich über Vergeltungsmaßnahmen nachdenken. China ist ein sehr wichtiger Handelspartner für die EU, und die EU ist wichtig für China. Regeln und Verhandlungen könnten eine Alternative zu einer Eskalation der gegenseitigen Zölle sein.

Glauben Sie, dass Europa den Kampf um die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA und China verliert? Was sollte getan werden?

Lassen Sie mich Deutschland als Beispiel nehmen. Das Produktivitätswachstum war schleppend. Demografie und Digitalisierung sind Probleme. Bei Letzterer besteht zum Beispiel die Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten. Cloud-Computing ist ein Beispiel dafür. Wir haben keine europäische Cloud. Der digitale Euro könnte unsere Chance für die erste wirklich europäische Cloud sein. Ja, wir stehen im Wettbewerb mit den USA und China, und wir müssen das Tempo beschleunigen. Leider bin ich mir nicht sicher, ob jeder in der Europäischen Union genug Druck verspürt, um das Gaspedal durchzudrücken.

Ist der digitale Euro der große Wurf? Welches Problem soll er genau lösen und wo liegt der Mehrwert für die Verbraucher?

Es ist sicherlich nicht die Lösung für alles, aber es wird ein immenser Schritt nach vorne für unser Zahlungssystem sein. Den Verbrauchern wird ein elektronisches Zahlungsmittel zur Verfügung stehen, das im gesamten Euro-Raum akzeptiert wird, das sehr wettbewerbsfähig ist und bei dem der Schutz der Privatsphäre einen hohen Stellenwert hat. Gleichzeitig werden die Verbraucher mehr Zahlungsmittel zur Auswahl haben, da wir weiterhin Bargeld anbieten werden.

Und welche Bedeutung hat er für Europa?

Ein digitaler Euro wird auch zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit und Autonomie in Europa beitragen. Das Zahlungssystem ist nämlich Teil der kritischen Infrastruktur. Wenn es also um digitale Zahlungslösungen im Euro-Raum geht, möchte ich, dass Europa das Steuer in der Hand hat und nicht von Dritten abhängig ist. Ich bin sicher, dass der digitale Euro ein Erfolg sein wird. Wenn die Menschen erkennen, dass sie überall in Europa mit dem digitalen Euro bezahlen können, werden sie ihn auch nutzen wollen.

China ist der Euro-Zone mit dem digitalen Renminbi weit voraus. Sind Sie besorgt, dass die Chinesen ihren Einfluss in Europa ausweiten könnten?

Was mich am meisten beunruhigt, ist der subtile Widerstand, den ich in Europa gegenüber der digitalen Innovation im Allgemeinen spüre. Wir müssen die Vorteile der Innovation nutzen, denn sie wird uns helfen, unseren Wohlstand und unsere europäische Lebensweise zu sichern. Das gilt auch für die Zentralbanken. Unser Auftrag bleibt derselbe, aber unser Instrumentarium zur Erfüllung dieses Auftrags entwickelt sich ständig weiter.

Und was wird aus Münzen und Scheinen?

Natürlich werden wir das Bargeld nicht aufgeben. Dies ist nach wie vor unser Kernprodukt. Aber wenn die Welt um uns herum immer digitaler wird, dann liegt es auf der Hand, dass ein ergänzendes Produkt zum Bargeld benötigt wird. Der digitale Euro wird diese Ergänzung sein. Er wird die Wahlfreiheit der Europäer verbessern. Und er wird das höchstmögliche Maß an Privatsphäre bieten.