Der EZB-Rat hat am 21. Juli ein neues geldpolitisches Instrument beschlossen: das Transmission Protection Instrument (TPI), also das Programm zur Absicherung der (geldpolitischen) Transmission. Es soll insbesondere bei der anstehenden geldpolitischen Normalisierung sicherstellen, dass die Geldpolitik reibungslos wirkt. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass das Eurosystem, also die EZB und die nationalen Zentralbanken der Euro-Mitgliedstaaten, seinen Auftrag erfüllen kann, Preisstabilität zu gewährleisten.
Das Preisstabilitätsziel Das Eurosystem, also die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Notenbanken der Euro-Mitgliedstaaten, hat für Preisstabilität im Euroraum zu sorgen. Nach Auffassung des EZB-Rats, dem auch der Bundesbankpräsident angehört, kann Preisstabilität am besten gewährleistet werden, wenn mittelfristig eine Inflationsrate von 2 Prozent angestrebt wird. |
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Unter „geldpolitischer Transmission“ wird der Übertragungsprozess verstanden, über den die Geldpolitik letztlich auf die Preise wirkt. Die Zentralbank wirkt dabei zunächst auf die Zinsen ein. Mit einer Änderung ihrer Leitzinsen beeinflusst sie die kurzfristigen Marktzinsen, die wiederum auf die längerfristigen Zinsen wirken. Die Zentralbank kann die längerfristigen Zinsen grundsätzlich auch direkter beeinflussen, zum Beispiel indem sie Anleihen kauft und verkauft. Die Leitzinsen sind aber in der Regel das zentrale geldpolitische Instrument.
Nach einer langen Zeit besonders niedriger Zinsen hat der EZB-Rat am 21. Juli 2022 in einem ersten Schritt beschlossen, die drei Leitzinssätze um jeweils einen halben Prozentpunkt anzuheben. Damit soll die Geldpolitik normalisiert und so die derzeit hohe Inflation bekämpft werden. In seiner folgenden Sitzung am 8. September 2022 hat der EZB-Rat mit einer Zinsanhebung um 0,75 Prozentpunkte einen noch deutlicheren Zinsschritt unternommen. Steigen die Leitzinsen, steigen üblicherweise auch die Marktzinsen, der geldpolitische Impuls wird also weitergegeben. Höhere Marktzinsen wiederum führen dazu, dass die privaten Haushalte weniger konsumieren und die Unternehmen weniger investieren als bei niedrigeren Zinsen. Sie dämpfen damit also das Wirtschaftswachstum. Wegen der geringeren Nachfrage passen Unternehmen in der Folge ihre Preise nach unten an. Damit wird letztlich der Preisauftrieb abgeschwächt.
Der EZB-Rat ist für Preisstabilität im Euroraum als Ganzem verantwortlich. Er strebt mittelfristig eine Inflationsrate von 2 Prozent an. Doch selbst wenn die Inflationsrate im Euroraum insgesamt 2 Prozent beträgt, können die Inflationsraten in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich sein. Dies kann etwa darin begründet liegen, dass die Mitgliedstaaten des gemeinsamen Währungsgebiets verschiedene Wirtschaftsstrukturen aufweisen oder sich in unterschiedlichen Konjunkturphasen befinden.
Die Marktzinsen können sich in den Mitgliedstaaten der Währungsunion ebenfalls unterscheiden. Zwar sind die geldpolitischen Leitzinsen für alle Länder identisch. Doch die Zinsen etwa auf Anleihen von Staaten können verschieden sein. So kann es sogenannte Risikoaufschläge auf die Zinsen vor allem dann geben, wenn am Kapitalmarkt Zweifel hinsichtlich der Solidität der Staatsfinanzen einzelner Länder bestehen. Gründe hierfür können zum Beispiel eine hohe Staatsverschuldung, strukturelle Wachstumsprobleme oder unsichere politische Aussichten in einem Mitgliedstaat sein. Im Euroraum ist es dabei Aufgabe der Mitgliedstaaten, eigenverantwortlich solide Staatsfinanzen und tragfähige Wirtschaftsstrukturen zu gewährleisten und davon auch die Kapitalmärkte zu überzeugen. Es gibt zudem gemeinsame fiskalische Solidaritätsmechanismen, die bei Finanzproblemen in einzelnen Mitgliedstaaten helfen können. Hierzu zählt etwa die Stützungseinrichtung ESM (European Stability Mechanism). Dem Eurosystem ist die Finanzierung der Mitgliedstaaten allerdings durch die europäischen Verträge verboten. Das heißt unter anderem: Der EZB-Rat ist nicht dafür verantwortlich, die Zinsniveaus in den Mitgliedstaaten anzugleichen.
Unterschiedliche Finanzierungsbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets sind also in der Regel das Ergebnis des normalen Marktgeschehens, das die jeweiligen makroökonomischen und fiskalpolitischen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten widerspiegelt. Auch im Zuge einer geldpolitischen Normalisierung kann die Zinsentwicklung in den einzelnen Mitgliedstaaten voneinander abweichen. So werden durch die Leitzinserhöhung vergleichsweise risikolose Anleihen für Investitionen attraktiver. Gleichzeitig fordern Investoren für risikoreiche Anleihen einen höheren Ausgleich in Form höherer Zinsen. Dementsprechend steigen die Staatsanleiherenditen in Mitgliedstaaten mit hohen öffentlichen Schuldenständen bei einer Leitzinsanhebung in der Regel stärker als beispielsweise die Renditen von Mitgliedstaaten mit geringerer Verschuldung.
Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es an den Finanzmärkten – etwa im Zuge der Normalisierung der Geldpolitik der EZB – zu sich selbst verstärkenden, destabilisierenden Fehlentwicklungen kommt. In der Folge können Anleiherenditen für den Staat, Unternehmen oder private Haushalte übermäßig steigen und sich von den Fundamentaldaten entfernen. Letztlich besteht dabei unter anderem das Risiko, dass daraus eine sich selbst erfüllende Schuldenkrise entsteht.
Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik
Klassischerweise sichern die Zentralbanken die Preisstabilität, indem sie „an der Leitzinsschraube drehen“. Eine vereinfachte Darstellung des Transmissionsmechanismus illustriert, wie eine Änderung des Leitzinses auf die Preisentwicklung gewöhnlich wirkt:
Ausgangspunkt der dargestellten geldpolitischen Wirkungskette – hier des Zinskanals – ist der von der Zentralbank festgelegte Zinssatz, zu dem sich Banken von der Zentralbank Geld leihen können. Erhöht die Zentralbank den Leitzinssatz, erhöht sich in der Regel der allgemeine Kurzfristzins. Den gestiegenen Kurzfristzins geben die Banken üblicherweise an ihre Kundinnen und Kunden weiter, indem sie ihre Zinssätze für Kredite an Unternehmen und Privatpersonen anheben. Auch das längerfristige Zinsniveau steigt. Wenn die Bankkredite teurer werden, geht die Nachfrage nach solchen Krediten in der Regel zurück. In der Folge wird die kreditfinanzierte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in der Volkswirtschaft schwächer. Die Unternehmen haben in einem solchen Umfeld unter anderem weniger Spielraum, Preiserhöhungen durchzusetzen. In der Folge wird der gesamtwirtschaftliche Preisauftrieb gedämpft, die Inflationsrate geht zurück. Umgekehrt verhält es sich, wenn die Zentralbank ihren Leitzinssatz senkt: Für Unternehmen und Haushalte wird es günstiger, Bankkredite aufzunehmen. Dies wiederum regt die Unternehmen dazu an, Kredite aufzunehmen, um zu investieren, und erhöht gleichzeitig die Nachfrage der Verbraucherinnen und Verbraucher, Konsumgüter zu kaufen, die langlebig sind. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt. Unternehmen können ihre Preise einfacher und stärker erhöhen. Die Inflationsrate nimmt tendenziell zu.
Weiterführende Informationen
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Das TPI kann aktiviert werden, wenn der EZB-Rat feststellt, dass ungerechtfertigte, ungeordnete Marktentwicklungen vorliegen, die die Transmission stören und dadurch die Fähigkeit des Eurosystems beeinträchtigen, Preisstabilität zu gewährleisten. Im Falle einer Aktivierung können die Zentralbanken des Eurosystems unter bestimmten Bedingungen Anleihen aus einzelnen Mitgliedstaaten ankaufen.
Der Fokus des TPI liegt auf Käufen von Staatsanleihen, wobei diese nur am Sekundärmarkt, also am Markt für bereits umlaufende Anleihen, durchgeführt werden dürfen. Durch solche Käufe sinken die Risikoaufschläge für diese Staatsanleihen. Damit könnten Zinsbewegungen am Staatsanleihemarkt gedämpft werden. Das kann wiederum die Finanzierungsbedingungen für private Haushalte und Unternehmen verbessern. Die vom TPI adressierten fundamental als nicht gerechtfertigt angesehenen Zinsniveaus würden korrigiert, sodass die Finanzierungsbedingungen in diesen Mitgliedstaaten wieder enger im Einklang mit den fundamentalen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen stehen und die Fragmentierung im Euroraum zurückgeht. Die Geldpolitik kann dann besser auf die Preise wirken.
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In einem etwaigen Anwendungsfall des TPI sind zunächst die Bedingungen zu konkretisieren, die erfüllt sein müssen, damit das Instrument aktiviert werden kann. Diese Bedingungen sollen sicherstellen, dass das TPI dem Mandat des Eurosystems entspricht, verhältnismäßig ist und nicht gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstößt. Dementsprechend muss das TPI auf Basis einer umfassenden (Verhältnismäßigkeits-)Prüfung der jeweiligen Situation durch den EZB-Rat im Einzelfall aktiviert werden. Zudem hat der EZB-Rat beschlossen, dass Mitgliedstaaten, deren Anleihen im Rahmen des TPI gekauft werden sollen, fiskal- und wirtschaftspolitische Voraussetzungen erfüllen müssen. „
Wir haben dabei klargemacht, dass wir das Instrument nur unter einer Reihe von Bedingungen aktivieren würden
“, sagte Bundesbankpräsident Joachim Nagel im August der Rheinischen Post. „Es gilt weiterhin uneingeschränkt: Die Regierungen sind für ihre Haushalts- und Finanzpolitik verantwortlich. Wenn also die nationale Haushalts- und Finanzpolitik die Zinsaufschläge steigen lässt, ist dies kein Fall für das TPI.
“Über die konkreten Voraussetzungen und ihr Vorliegen entscheidet der EZB-Rat bei der umfassenden Gesamtprüfung, die vor einer etwaigen Aktivierung des TPI für den konkreten Einzelfall durchgeführt wird. Es soll sichergestellt sein, dass die Mitgliedstaaten, deren Anleihen möglicherweise gekauft werden, eine solide und tragfähige Finanz- und Wirtschaftspolitik verfolgen. Im TPI-Beschluss werden hierfür vier potenziell besonders bedeutsame Kriterien genannt (siehe Kasten). Zudem wird der Umfang von eventuellen Ankäufen im Rahmen des TPI von der Schwere der Störung der geldpolitischen Transmission abhängen. Schließlich würden Anleihen nur vorübergehend gekauft. Die Käufe würden vom EZB-Rat dann beendet, wenn entweder eine dauerhafte Verbesserung der Transmission deutlich wird oder wenn der EZB-Rat nach einer gewissen Zeit zum Schluss gelangt, dass die Zinssätze nicht mehr im klaren Gegensatz zu länderspezifischen Fundamentaldaten stehen.
Der EZB-Rat hat eine Liste von Kriterien festgelegt, um zu beurteilen, ob ein für die Durchführung von Ankäufen im Rahmen des TPI in Frage kommender Mitgliedstaat eine solide und tragfähige Finanz- und Wirtschaftspolitik betreibt. Diese Kriterien werden in die Beschlussfassung des EZB-Rats einfließen und dynamisch an die sich abzeichnenden Risiken und Bedingungen angepasst, denen begegnet werden muss. Zu den in Frage kommenden Kriterien zählen insbesondere:
- Fiskalregeln. Gegen den Mitgliedstaat ist entweder kein Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Excessive Deficit Procedure, EDP) eröffnet, oder er hat im Rahmen eines solchen Verfahrens wirksame Maßnahmen ergriffen, die im Einklang mit den Empfehlungen des EU-Rates (Artikel 126 Absatz 7 AEUV) stehen.
- Gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte. Gegen den Mitgliedstaat ist kein Verfahren bei einem übermäßigen Ungleichgewicht (Excessive Imbalance Procedure, EIP) eröffnet, oder er hat im Rahmen eines solchen Verfahrens die vom Rat der EU gemäß Artikel 121 Absatz 4 AEUV empfohlenen Korrekturmaßnahmen ergriffen.
- Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Hierfür prüft der Rat, ob die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung tragfähig ist. Dabei berücksichtigt er – soweit verfügbar – die von der Europäischen Kommission, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, dem Internationalen Währungsfonds und anderen Institutionen durchgeführten Schuldentragfähigkeitsanalysen (Debt sustainability analysis) sowie die internen Analysen der EZB.
- Solide und tragfähige Wirtschaftspolitik. Der Mitgliedstaat hält die Verpflichtungen ein, die im Rahmen der Aufbau- und Resilienzpläne (Recovery and Resilience Plans, RRP) vereinbart wurden und erfüllt im Bereich der Finanzpolitik die länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters.