Quo Vadis Wirtschaftsstandort Deutschland? Rede beim Jahresempfang der Hauptverwaltung in Rheinland-Pfalz und dem Saarland

Es gilt das gesprochene Wort.

1 Einleitung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ich freue mich, heute bei Ihnen in Mainz zu sein. Umso mehr, als ich letztes Jahr leider verhindert war. 

In einem vielbeachteten Städte-Ranking landet Mainz bei der Kategorie „Dynamik der Entwicklung“ auf Platz 1.[1] In vielerlei Hinsicht leben Sie hier in einer attraktiven, dynamischen Stadt. Mit großer Ausstrahlung in die Region. 

Hier vor Ort hat man sich vorgenommen, aus dem Erfolg von Biontech mehr zu machen. Ich bin sicher: Stadt und Region werden mit der Entwicklung des Biotech-Pharma-Clusters ihre Stärken ausspielen. Und eine nachhaltige Entwicklung nehmen. 

Kürzlich gab es einen großen Erfolg. Eli Lilly kommt nach Alzey, 50 Kilometer südlich. Investiert werden sollen 2,3 Milliarden Euro. Für rund 1.000 Arbeitsplätze.[2] Das ist gut für die gesamte Region. Und damit für uns alle.

Wir sind eine föderale Republik mit starken Ländern und Regionen. Es muss an vielen Stellen vorangehen, wenn sich etwas bewegen soll.

Das ist mein Thema für heute Abend. Es geht um den Wirtschaftsstandort. Es geht um Optimismus, trotz aller Herausforderungen. Und um die Menschen, die davon profitieren.

Und das in einem herausfordernden Umfeld. Insbesondere die Industrie leidet unter einer schwächeren Güternachfrage aus dem Ausland. Darüber hinaus sind seit der Invasion in die Ukraine die Energiepreise in Deutschland gestiegen.

Diese beiden Entwicklungen treffen sowohl energieintensive als auch exportabhängige Unternehmen in besonderem Maße. Unter anderem deswegen war 2023 ein schwieriges Jahr für die deutsche Industrie und die deutsche Wirtschaft insgesamt. Die Zahlen zur Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion verdeutlichen dies.

Das BIP in Deutschland ist im vierten Quartal 2023 saison- und kalenderbereinigt um 0,3 Prozent zurückgegangen. Und die Schwächephase dürfte sich im ersten Quartal dieses Jahres fortsetzen. Die deutsche Wirtschaft kommt nur langsam wieder auf die Beine. Wir rechnen für das laufende Jahr mit einem moderaten Wirtschaftswachstum.

Trotzdem sehe ich in diesen herausfordernden Zeiten auch einige Hoffnungsschimmer. Lieferengpässe haben sich weitestgehend entspannt. Positiv schlägt bei uns im Lande der robuste Arbeitsmarkt zu Buche. Die Arbeitslosenquote in Deutschland lag zuletzt bei 3,1 Prozent – verglichen mit 6,4 Prozent im Euroraum.[3] 

Zudem ist eine Erholung der Kaufkraft zu erwarten. Das interessiert uns alle, denn alle führen einen privaten Haushalt. Die jüngsten Zuwächse bei den Tariflöhnen von 3,7 Prozent[4] werden die Einkommenssituation perspektivisch verbessern.[5] 

Auch die Inflationsrate ist – Stand heute – auf einem guten Weg. Nämlich nach unten. Auch wenn das Ziel noch nicht erreicht ist, von den Höchstständen sind wir weit entfernt. Auf ihrer jüngsten Sitzung am 7. März berichtete die EZB über sinkende Erwartungen für die Höhe der Inflation im Euroraum. Auf 2,3 Prozent in diesem Jahr. Und 2 Prozent – die Zielrate – für 2025.

Für unsere international verflochtene Wirtschaft stimmen einige Frühindikatoren optimistisch. So wird in Umfragen der „Materialmangel“ als Produktionshemmnis deutlich seltener genannt. Von einem Hochpunkt 2021 bei über 50 Prozent der befragten Unternehmen auf mittlerweile knapp über 10 Prozent.[6] 

Positiv sind auch einige Daten aus den USA.[7] Die größte Volkswirtschaft der Welt schafft Hunderttausende neue Arbeitsplätze.[8] Und sie war auch 2023 der wichtigste Abnehmer unserer Waren.[9] Und der IWF hat seine Prognose für das globale Wirtschaftswachstum auf 3,1 Prozent angehoben.[10] 

Wir müssen den Schwung der Weltwirtschaft für die Weiterentwicklung unseres Standorts nutzen. 

Unsere Unternehmen sind dafür gut aufgestellt. Sie suchen international ihre Chance. So konnten die Exporte von Pharmaprodukten sowie von elektronischen und optischen Geräten in den vergangenen Jahren erkennbar zulegen.[11] 

Mainz ist da ein gutes Beispiel: Nicht auf den Lorbeeren ausruhen, sondern beherzt das nächste Projekt angehen.

2 Hürden abbauen

Viele Zahlen der aktuellen Konjunkturentwicklung zeigen eine leichte Aufwärtstendenz oder zumindest eine Bodenbildung.[12] Dass aus diesem Boden jetzt ein Sprungbrett werden kann, dafür sollten wir mit vielen gezielten Maßnahmen sorgen. 

Der Abbau von Hürden ist das Gebot der Stunde. Wir müssen das, was unsere Entwicklung behindert, klar benennen. Nur so drücken wir die richtigen Knöpfe, um vorwärts zu kommen. 

Es kommt darauf an, die langfristigen Wachstumskräfte zu stärken.[13] Das müssen wir alle gemeinsam angehen. Politik, Wirtschaft und der Finanzplatz, wenn es um die Finanzierung geht.

Lassen Sie mich einige Beispiele für solche Hürden nennen. Ganz oben steht: Der demografische Wandel. Das Angebot an Arbeitszeit muss wachsen. Im Moment wächst eher noch der Anteil an Teilzeit. Beinahe jeder Dritte arbeitet weniger Stunden als möglich.[14] Wir müssen hier unsere Potentiale heben. Ich sehe drei Felder, in denen wir viel für die Erhöhung der Erwerbsquote tun können.

  • Erstens: Aus- und Fortbildung: Junge Menschen müssen gut ausgebildet und Arbeitnehmer kontinuierlich fortgebildet werden. Wie Nelson Mandela einst sagte: „Bildung ist die mächtigste Waffe, um die Welt zu verändern.“
  • Zweitens: Wir müssen die Erwerbsbeteiligung von Frauen fördern. Das trifft gerade auf Mütter von jungen Kindern zu. Erhebungen des Statistischen Bundesamts legen nahe, dass nur rund jede zweite Mutter mit einem Kind unter sechs Jahren aktiv am Erwerbsleben teilnimmt. Auch die Teilzeitquote bei Frauen ist in Deutschland hoch. Zuletzt betrug sie 47 Prozent. Zum Vergleich: für den Euroraum lag die Quote im Durchschnitt bei 33 Prozent.[15]
    Nicht nur, dass die erwerbstätigen Frauen ein großes Potential für die deutsche Wirtschaft darstellen. Für die Frauen selbst ist es ein großes wirtschaftliches Risiko, nicht oder nur eingeschränkt einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen. Das Risiko realisiert sich etwa durch Scheidung oder im Alter durch geringe Rentenansprüche.
    Doch selbst, wenn wir die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Deutschland deutlich erhöhen, wird das nicht ausreichen. Denn bereits in den nächsten Jahren sinkt die Anzahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter.[16] Das treibt viele Arbeitgeber um – auch uns bei der Bundesbank.
  • Wir benötigen – drittens – auch Fachkräfte aus dem Ausland. Auch, um die Transformation hin zu einer klimaneutralen, modernen Wirtschaft umzusetzen.[17] Die jüngsten Neuerungen im Fachkräfte-Einwanderungsgesetz gehen in die richtige Richtung.[18] 

Es geht um gute Gesetze. Und um fitte Behörden. Und nicht zuletzt um eine Willkommenskultur. 

Zwei weitere Hürden stehen uns im Weg: Das erste ist die bürokratische Regelungsdichte, die wir uns – ja, man muss es so sagen: leisten. Schaffen wir doch stattdessen Verlässlichkeit durch ein vernünftiges, zielgerichtetes Regelwerk. Ohne alles und jedes im Detail regeln zu müssen. Trauen wir uns selbst, trauen wir unseren Unternehmerinnen und Unternehmern mehr zu, mehr Eigenverantwortung. 

Die andere Hürde ist unser System der Altersvorsorge. Es hat sich bewährt. Aber wir müssen es jetzt demografiefest und zukunftssicher aufstellen.[19] Bei fast 46 Millionen Erwerbstätigen[20] und einer Gesamtbevölkerung von mehr als 80 Millionen Menschen machen sich schon geringe Verschiebungen bemerkbar. Positiv wie negativ.

3 Chancen nutzen

Hürden abbauen ist das eine. Chancen nutzen das andere. Wir brauchen zunächst einmal ein gemeinsames Verständnis. Davon, dass unser Wohlstand von der Stärke des Standorts abhängt. Um diese Stärke zu erhalten, braucht es vor allem Mut. Wir benötigen alle Mut und Zutrauen, um uns von alten Gewohnheiten zu lösen. 

  • Erste Chance: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Digitale Prozesse fördern die Arbeitsproduktivität.[21] Daher ist es wichtig, dass bereits entwickelte Technologien auch genutzt werden – was in Deutschland leider nicht überall der Fall ist. 
    Auch mit Blick auf die Nutzung künstlicher Intelligenz, sind wir hierzulande eher vorsichtig unterwegs. Künstliche Intelligenz, wird die Welt stark verändern. Für die Wirtschaft wird KI disruptiv. Laut einer aktuellen Umfrage des Verbandes der Internetwirtschaft stehen zwei Drittel der Deutschen der Datennutzung durch Künstliche Intelligenz skeptisch gegenüber.[22] Natürlich gilt es, hier die Risiken einzudämmen. Aber vor allem muss es darum gehen, die Chancen der Künstlichen Intelligenz zu nutzen. Asien und die USA tun dies schon. 
  • Zweitens: Die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft. Das Thema ist mir, wie Sie wissen, ein besonderes Anliegen. Das ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Aber sie ist eben auch eine Chance. Auch für unsere Finanzplätze – denn die Transformation der Wirtschaft wird große Summen und innovative Finanz-Instrumente erfordern. Für Deutschland schätzt die KfW den Investitionsbedarf in Richtung Klimaneutralität auf fünf Billionen Euro bis 2050. Hier benötigen wir den Kapitalmarkt, um ausreichend privates Kapital zu mobilisieren. 
  • Chancen sehe ich drittens auch für unsere innovative Wirtschaft, die technologische Lösungen bereitstellt, um klimaneutral zu wirtschaften und zu produzieren. Bei der sogenannten Green-Tech Innovation stehen wir gut da: Gemäß einer kürzlich veröffentlichten Studie kommen in diesem Bereich etwa genauso viele Weltklassepatente aus Deutschland wie aus den restlichen Ländern der EU.[23] Wir liegen nur hinter unseren Wettbewerbern USA, China und Japan.

Unsere Unternehmen gehen den Strukturwandel an. Eine Umfrage der Bundesbank ergab, dass sie flexibel und mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen auf die höheren Energiepreise reagieren.[24]

Die Dekarbonisierung ist also eine Chance für unsere technologischen Zentren. Die Unternehmen, die Ausrüster, die Anwender und die Hochschulen. Jetzt gilt es, innovative Ideen auch umzusetzen. Wir müssen junge Unternehmen bei der Gründung – aber vor allem auch in der Wachstumsphase – unterstützen. Dann, wenn es so richtig ins Geld geht, aber die Gewinnschwelle noch nicht erreicht ist. In dieser Phase können zukunftsfähige Arbeitsplätze entstehen. Das sollten wir uns nicht entgehen lassen, wenn wir unseren Standort stärken wollen. Damit unsere guten Ideen und die Innovationen nicht abwandern.

4 Schluss

Sie sehen: Wir haben eine sehr solide Ausgangsbasis. Mainz macht es uns vor, indem es für ideenreiche und innovative Unternehmen einen Biotech-Campus schafft. 

Davon brauchen wir mehr. Machen wir es an vielen Orten so, wie Mainz und seine Region: Nutzen wir die Chancen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, jetzt die notwendigen Entscheidungen zu treffen und zu unterstützen.

 

Fußnoten:

  1. Ranking (2023) von 71 deutschen Großstädten. In der Kategorie Dynamik liegt Mainz auf Rang 1; in der Gesamtwertung («Niveauwertung») auf Rang 3. Städteranking 2023 (iwconsult.de) 
  2. Pressemeldung Elly Lilly Pressemitteilungen - Aktuelles | Lilly Deutschland
  3. Angaben international standardisiert gemäß Definition der ILO (International Labour Organization).
  4. Statistisches Bundesamt, Steigerung der Tarifverdienste 2023: 3,7%. Tarifverdienste - Statistisches Bundesamt (destatis.de). / Die effektiv ausgezahlten Löhne (Effektivlohn) stieg sogar um 6,1%, die höchste Rate seit 1992 (Monatsbericht 02/24, S. 50). 
  5. Monatsbericht 02/24, S. 10. 
  6. Europäische Kommission, Business and Consumer Survey. Zitiert nach: Monatsbericht 02/24, S. 20. 
  7. Monatsbericht 02/24, S. 8, 13. 
  8. 353.000 im Januar 2024, 275.000 im Februar2024. U.S. Bureau of Labor Statistics (bls.gov)
  9. Statistisches Bundesamt, Pressemeldung vom 14.02.2014: “Die meisten deutschen Exporte gingen im Jahr 2023 wie bereits seit 2015 in die Vereinigten Staaten. Dorthin wurden Waren im Wert von 157,9 Milliarden Euro exportiert, das waren 1,1 % mehr als im Vorjahr.»
  10. IWF Pressemitteilung vom 30.01.2024. World Economic Outlook Update, January 2024: Moderating Inflation and Steady Growth Open Path to Soft Landing (imf.org)
  11. Eigene Auswertungen der Bundesbank. 
  12. Weitere Hinweise im Monatsbericht 02/24, S. 20. 
  13. Einschätzung der Bundesbank, Monatsbericht 12/23, S. 18: «Die deutsche Wirtschaft erreicht erst im Jahr 2026 wieder in etwa ihr Produktionspotenzial. Für das Potenzialwachstum werden im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie verhaltene Raten veranschlagt: Nach + 0,6 % 2023, + 0,4% 2024 und + 0,5% 2025 wird für 2026 eine Potenzialrate von + 0,7 % geschätzt.»
  14. Aktuell arbeiten rund 10,5 Millionen Menschen in Teilzeit. Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht 02/24, S. 7. 
  15. Angaben gemäß Eurostat für das Jahr 2022. Teilzeitbeschäftigung als Prozentsatz der gesamten Beschäftigung im Alter von 20 bis 64 Jahren.
  16. Vgl. Deutsche Bundesbank (2023), Wirtschaftsstandort Deutschland: ausgewählte Aspekte der aktuellen Abhängigkeiten und mittelfristigen Herausforderungen, Monatsbericht September, S. 15-36.
  17. Die Bundesagentur für Arbeit meldetet im Februar 2024 706.000 offene Arbeitsstellen. Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht 02/24, S. 10. 
  18. Konkret die Absenkung der Verdienstgrenze für die sogenannte «Blaue Karte» und die Anerkennung ausländischer Qualifikationen; Fachkräfteeinwanderungsgesetz | Bundesregierung Vgl. Monatsbericht September 2023, S. 30f. mit Fußnote 44. Aktuell bei der Bundesagentur für Arbeit: Leben und Arbeiten in Deutschland: Westbalkan-Regelung | Bundesagentur für Arbeit (arbeitsagentur.de) Leben und Arbeiten in Deutschland: Westbalkan-Regelung | Bundesagentur für Arbeit (arbeitsagentur.de)
  19. Zusammenfassend Monatsbericht 09/23, S. 32. 
  20. Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht 02/24, S. 6. monatsbericht-d-0-202402-pdf.pdf;jsessionid=8A1B0AED1A023CD2C87D124FECF4110E (arbeitsagentur.de)
  21. Vgl. Monatsbericht 03/23, S. 45-67. 
  22. Eco-Umfrage, veröffentlicht am 28.02.2024. eco Umfrage: Zwei Drittel der Deutschen lehnen Nutzung ihrer anonymisierten Daten für Künstliche Intelligenz ab - eco
  23. Green Tech made in Germany: Wie zukunftsfit sind wir? (bertelsmann-stiftung.de). / Weltklassepatente sind definiert als der «Bestand und die Entwicklung der besten zehn Prozent der Patente pro Technologie» (ebd., S. 10).
  24. Monatsbericht 09/23, S. 26f. Umfrage aus dem 1.Quartal 2023; mittlerweile sind die Energiepreise wieder gesunken.