Kleines Geld, große Probleme Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Auch Bargeld kostet Geld, so kurios das klingen mag. Besonders im Fall der Ein- und Zwei-Cent-Münzen kommt es immer wieder zu Diskussionen, ob diese Kleinmünzen durch Rundungsregeln überflüssig gemacht werden können. Anfang 2018 hat Italien nach Finnland, den Niederlanden, Belgien und Irland als fünftes Euroland Rundungsregeln eingeführt. Der historische Hintergrund der Kleinmünzen ist jedoch weitgehend unbekannt.
Die Geschichte des Kleingelds reicht ziemlich genau 2458 Jahre zurück, so dass umfassende Erfahrungen mit diesen Münzen vorliegen, auf deren Grundlage sich die gegenwärtigen Fragen klären lassen: Warum benötigt man überhaupt Kleingeld? Wer produziert es, wer trägt die Kosten dafür –und wie lassen sich diese möglichst gering halten?
Kleingeld hat einen großen Nachteil. Es bringt dem Emittenten einen geringeren Gewinn ein als höherwertige Münzen. Das liegt zum einen daran, dass weit mehr Kleinmünzen geprägt werden müssen, um denselben Wert eines höheren Nominals zu erreichen. Somit entstehen höhere Produktionskosten. Diese Kosten hängen heutzutage zum anderen nicht mehr unmittelbar mit dem Nennwert der Gepräge zusammen.
Bis in das 20. Jahrhundert hinein war das anders: Münzen sollten nach europäischem Verständnis grundsätzlich einen Edelmetallgehalt aufweisen, der ihrem Wert im Geldumlauf entsprach. Aus diesem Grund wurden die ersten Münzen der Menschheit im siebten Jahrhundert vor Christus aus einem Gemisch aus Gold und Silber geprägt. Münzen geringerer Wertstufen bestanden aus dem gleichen Material, hatten aber einen geringeren Durchmesser und ein niedrigeres Gewicht. Die in jeder Hinsicht kleinsten Münzen wiesen daher gerade einmal die Größe eines Stecknadelkopfes auf.
Schon unter dem legendären König Krösus wurde die Münzproduktion in höherwertige Gold- und Silbermünzen von geringerem Wert differenziert. Diese Münzen hatten aber immer noch einen hohen Materialwert. Kleingeld im heutigen Sinne entstand erst durch die Einführung von Kupfermünzen in den sizilianischen Münzstätten Akragas (dem heutigen Agrigent) und Selinunt um 440 vor Christus. Dieser Schritt ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für das Geldwesen in Europa, denn dadurch wurde Bargeld zum Gegenstand des Alltagslebens breiterer Bevölkerungsschichten.
Mit ihrer Innovation bahnten die griechischen Städte auf Sizilien einem neuen Geldverständnis den Weg, weg von der ausschließlichen Verwendung von Edelmetall im Nennwert der Gepräge und hin zu einem breiteren Wertspektrum, das die Bedürfnisse breiter Teile der Bevölkerung im Zahlungsverkehr berücksichtigte. Ein sorgsam ausdifferenziertes Münzsystem mit einheitlicher Ausgabe von Gold-, Silber- und Bronzemünzen in großem Ausmaßetablierte jedoch erst Alexander der Große gut 100 Jahre später. Es ist gewiss kein Zufall, dass auf dessen Lehrer Aristoteles die erste heute bekannte systematische Geldtheorie zurückgeht. In der Nikomachischen Ethik formulierte Aristoteles den Gedanken, dass Geld zur Ermöglichung eines gerechten Austauschs von Waren und Dienstleistungen erfunden worden war, um dadurch den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Damit es diese Aufgabe wahrnehmen konnte, musste Geld kleinste und größte Werte messbar machen.
Damit war allerdings noch nicht die Frage beantwortet, wie die Münzprägung grundsätzlich finanziert werden sollte. Die Antwort dauerte nochmals mehr als 1600 Jahre: Erst der französische Gelehrte Nicolas Oresme schrieb in seiner um 1358 entstandenen "Abhandlung über Geldwertveränderungen", das Geld gehöre zwar der Allgemeinheit, müsse aber vom Herrscher ausgegeben werden, der auf diese Weise zum Gemeinnutz beizutragen habe. Im Gegenzug für die Übernahme der Kosten sprach Oresme dem Herrscher das Anrecht auf einen angemessenen Münzgewinn zu. Diese Einkünfte sollten zur Finanzierung der Herrschaftsausgaben beitragen, die aus Oresmes Sicht in allererster Linie durch Steuereinnahmen zu finanzieren waren.
Wie dies auf unterschiedlichste Weise in die Praxis umgesetzt wurde, beschreiben der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Thomas J. Sargent und François Velde von der Federal Reserve Bank of Chicago in ihrem 2002 erschienenen Buch vom "Großen Problem des kleinen Geldes". In Florenz etwa gab man 1347, also noch vor der Entstehung von Oresmes Geldtheorie, die Prägekosten für Kleinmünzen an die Kunden weiter, die dafür deutlich mehr Geld bezahlen mussten als für Silbergroschen oder Goldgulden. In Frankreich und den Niederlanden hingegen waren für Verbraucher die Kosten für alle Nominale gleich. Die Prägekosten berechnete man je nach Nominal und beglich sie aus dem Gesamtgewinn der Münzprägung. Somit wurde die Prägung von Kleingeld gewissermaßen durch größere Nominale quersubventioniert. Eine dritte Variante galt in England nach dem Jahr 1351. Dort erhielt der Münzmeister einen einheitlichen Betrag für alle unterschiedlichen Nominale, die aus dem gleichen Metall geprägt wurden. Diese Regelung gab den Anreiz, ausschließlich die gewinnträchtigsten Großmünzen zu prägen. Deshalb überließ man von 1461 an einem Oberaufseher die Bestimmung der zu prägenden Münzsorten. Dennoch blieb die Bargeldversorgung unausgewogen, bis 1770 schließlich eine Differenzierung der Münzpreise umgesetzt wurde.
Das Kostenproblem löste man beim Kleingeld auf unterschiedliche Weise. Zunächst durch Abwertung, in der Regel also eine Senkung der Materialkosten bei der Prägung: Man verringerte den Edelmetallgehalt. Darüber hinaus verringerten sich die Produktionskosten durch technische Innovationen, zunächst mit der Erfindung der Walzenprägung Mitte des 16. Jahrhunderts. Aus einem Stück Metall ließen sich damit in einem Prägedurchgang viele Münzen ausprägen.
Die zweite, weit wichtigere Innovation ist die Weiterentwicklung der Dampfmaschine durch James Watt. Die endgültige Form seiner Erfindung kam 1788 erstmals zum Einsatz, und zwar zur Prägung von Kupfermünzen. Diese waren zuvor noch in Handarbeit geprägt worden, wodurch sie uneinheitlich aussahen und deshalb leicht zu fälschen waren. Der konstante Prägedruck der Dampfmaschine änderte dies in Kombination mit weiteren Innovationen in der Prägetechnik, wodurch es gelang, die Kosten zu senken und gleichzeitig die Qualität zu erhöhen. Die Industrialisierung begann also mit der Münzprägung, und die neuen Kleinmünzen ermöglichten die Auszahlung der niedrigen Tage- und Wochenlöhne an die Arbeiter, die zu den Fabriken in die Städte strömten. So wurde die Industrielle Revolution vom Kleingeld vorangetrieben.
Die Wertschätzung des Kleingeldes verdeutlichen auch viele Sprichwörter. "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert"
war eine gebräuchliche Redewendung, solange es den Pfennig in Deutschland noch als Nominal gab. Sie hatte sich sogar bei der Wandlung der Geldsysteme mitverändert. Bevor der Taler im Verlauf des 16. Jahrhunderts zur weitverbreiteten Großsilbermünze wurde, hieß es noch: "Wer keinen Pfennig achtet, der wird nimmer eins Gulden Herr"
, wie Johannes Agricola in seiner Sprichwörtersammlung vermerkte.
Nach der Einführung des Euros scheint sich diese Einstellung jedoch allmählich gewandelt zu haben. In der Zahlungsverhaltensstudie der Deutschen Bundesbank aus dem Jahr 2017 zeigt sich erstmals ein schwindender Widerstand gegen die Einführung einer Rundungsregel, welche die kleinsten Münzen überflüssig machen würde. Hier bleibt abzuwarten, wie die weitere Meinungsbildung verläuft, und vor allem auch, wie sich die künftige Nachfrage nach diesen Geprägen entwickelt, die bislang ungebrochen hoch ist. Solange eine Nachfrage besteht, wird es in Deutschland auch weiterhin die kleinsten Münzen geben. Vielleicht heißt es ja sogar eines Tages: "Wer den Cent nicht ehrt, ..."